Den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf“: Hat Honecker das selbst gedichtet?

Nein, das hat Erich Honecker weder selbst erfunden noch gar gedichtet. Das wundert wohl niemanden, der ihn noch kennt: Es fällt schwer, in ihm einen großen Redner oder gar Dichter zu sehen. Er ist vielmehr ganz augenfällig das Produkt und der Ausdruck einer langen, diktatorischen und jedem eigenständigen Denken feindlichen, bürokratischen Entwicklung der kommunistischen Parteien.

Woher aber kommt das Zitat? Und was genau war seine Bedeutung?

Viele schreiben diesen Ausspruch dem Sozialdemokratischen Politiker August Bebel zu, der dies Ende des 19. Jahrhunderts den bürgerlichen Abgeordneten des Reichstags zugerufen haben soll. Fleißige Menschen haben dafür eine Menge Belege zusammengetragen, nämlich hier.

Sie zeigen, dass viele Quellen diese Aussage August Bebel zuschreiben, können es aber allesamt nicht beweisen. Sicher hingegen ist, dass „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“ ein geflügeltes Wort in der Sozialdemokratie spätestens seit 1886 war.

Der Sinn ergibt sich aus dem damaligen Denken. In der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts dachte man in der Tat, dass eine wissenschaftlich bewiesene Naturgesetzhaftigkeit der geschichtlichen Entwicklung unweigerlich auf den Sozialismus hinauslaufe. So schrieb etwa Rosa Luxemburg in „Sozialreform oder Revolution“: „Die Sozialdemokratie leitet ihr Endziel … von der ökonomischen Notwendigkeit und der Einsicht in diese Notwendigkeit ab, die zur Aufhebung des Kapitalismus durch die Volksmasse führt“. Dass das Ende des Kapitalismus und die Entstehung des Sozialismus eine „Naturnothwendigkeit“ sei, war eines der Lieblingsworte des damaligen Chef-Parteitheoretikers Karl Kautsky. Alle beriefen sich dabei auf Karl Marx, in dessen Schriften man diese geschichtliche Naturgesetzlichkeit wissenschaftlich begründet und bewiesen sah – übrigens wohl auch gegenüber Marx eher zu Unrecht.

Gegen die Sozialdemokratie, die damals auch für ihre Gegner, etwa Bismarck, unaufhaltsam zu wachsen schien, stand in deren Sicht das konservative, unter dem Einfluss von Kirche und Pfaffen stehende kaiserliche Deutschland. Wobei den Sozialdemokraten mit einem verkürzten Zitat aus einer Marx’schen Jugendschrift die Religion als „Opium für das Volk“ galt. Dem auf Aufklärung, Wissenschaft und Fortschritt setzenden Sozialdemokraten galt die Religion insgesamt, insbesondere aber die rührseligen Geschichten darin – wie die Geburt des Jesuskindes in einem Stall mit Ochsen und Esel – als zu bekämpfende, lächerliche Rückständigkeit. In diesem Zusammenhang verspottete der Spruch „… hält weder Ochs noch Esel auf“ den in ihren Augen naiven Glauben, wo selbst Ochse und Esel in der Krippe als Zeugen der Jesus-Geburt noch als Glaubensbestandteil herhalten müssen. Der Satz war damals unter Sozialdemokraten also so beliebt, weil er für sie sagte: „Euren lächerlichen Kindergeschichten glaubt doch niemand mehr; das Erstarken und schließlich der Sieg des Sozialismus sind eine sichtbare und wissenschaftlich bewiesene Tatsache!“ Es war damals der Spott des vermeintlichen historischen Siegers gegenüber den Gestrigen und Losern.

Als Honecker diesen Spruch benutzte – er tat dies mehrmals – wirkte diese Pose des geschichtlich Überlegenen nur noch lächerlich: Der Sozialismus hatte, selbst in seiner bürokratisch-diktatorischen Fratze, keineswegs gesiegt; nun mutete der Spruch selbst an wie ein naiver Kinderglaube, der durch das Wiederholen von Versen wahr werden soll und mit dem er sich Heiterkeit und Spott einhandelte. Insbesondere Ochs und Esel erschienen nun als grotesk.

Auch der Einfluss des damaligen ideologischen Hauptgegners, der Kirche und ihrer Religion, war so weit zurückgegangen, dass kaum jemand noch den Spott auf ihre tierischen „Zeugen“ erkannte. Es war unbegreiflich bzw. erschien ziemlich sinnfrei, wieso Tiere aus einer rückständigen Landwirtschaft überhaupt als Gegner eines industriell orientierten Wirtschaftssystems auftreten sollten.

Endgültig weithin bekannt geworden ist dieser Ausspruch von Honecker dann schließlich von der Erfurter Messe 1989, als der Zusammenbruch der DDR bereits unübersehbar war, wo er noch einen 32-Bit-Chip aus eigener Entwicklung vorstellte.

Zu diesem Zeitpunkt die Präsentation eines Prozessors zum Anlass zu nehmen, den Sieg einer einstigen Gesellschaftsidee zu proklamieren, in der einmal Kriege und Ausbeutung überwunden sein sollten, wirkt natürlich besonders lächerlich und zeigt, wie weit ihre Träger sich von ihrer eigenen ursprünglichen Zielsetzung, aber auch von der Realität entfernt hatten.