Demokratie in der Diskussion – am Beispiel Athen
Die Athener Demokratie gilt als erstes Beispiel und Modell einer demokratischen Verfassung. Das war vor zweieinhalb tausend Jahren. Auch deshalb nennt man Griechenland die Wiege der abendländischen Kultur.
Die demokratischen Regelungen im antiken Stadtstaat Athen waren bis dahin beispiellos und sind bis heute beispielgebend. Dem entsprechend war und ist die Athener Demokratie bis heute umkämpft und umstritten. Und natürlich hat Athen samt seiner Demokratie selbst eine bewegte Entwicklungsgeschichte.
Aber viele grundsätzliche Fragen, die zurzeit wieder im Zusammenhang mit der Demokratie diskutiert werden, waren schon damals umstrittene Diskussionsthemen. Etwa
– das Verhältnis zwischen Wahrheit und Meinungsvielfalt,
– die Macht der einzelnen Organe des Staates und ihr Verhältnis zueinander
– wie und durch wen Posten und Ämter besetzt wurden,
– die Einflussmöglichkeiten des einzelnen Bürgers,
– politische Gleichheit in sozialer Ungleichheit,
– das Verhältnis von Masse und Führung,
– Populismus und Gesetzestreue der Staatsführung.
Letztlich drehten sich die damaligen Diskussionen um das Zustandekommen, die Legitimität und die Durchsetzungsfähigkeit der demokratischen Herrschaft. Und schon damals spielte die informelle Einflussnahme auch jenseits formal-demokratischer Abläufe eine entscheidende Rolle.
Der folgende Text stellt zuerst die Strukturen und Regeln der athenischen Demokratie dar, dann, im Schwerpunkt, die damalige Diskussion darüber. Dabei geht er auch den Gründen für Blüte und Verfall der ersten Demokratie unseres Kulturkreises nach.
Inhalsverzeichnis
- 1 Entstehung und Hintergrund des Demokratie-Modells
- 2 Die Verteilung der Macht
- 3 Stärken und Schwächen der Athener Demokratie in der zeitgenössischen Diskussion
- 3.1 Das Ideal
- 3.2 Meinungsbildung in der Diskussion – Gibt es eine absolute Wahrheit?
- 3.3 Demokratie und Führung
- 3.4 Idealismus vs. Realismus: Sollen Amtsinhaber und Volksvertreter Geld bekommen?
- 3.5 Platons Gegenmodell
- 3.6 Die Reform: Beschränkung der demokratischen Entscheidungen auf die Profis und „Kundigen“
- 3.7 Zur Kritik des Thukydides an demokratischen Entscheidungen
- 3.8 Die Utopie des Aristophanes
- 3.9 Sparta als Gegenmodell?
- 3.10 Zu den Ursachen des Niedergangs
- 3.11 Schluss
- 4 Anmerkungen und Verweise
Entstehung und Hintergrund des Demokratie-Modells
Die demokratische Verfassung Athens wurde in vielen Auseinandersetzungen und Reformschritten ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. vorangetrieben und im Jahr 508 v. Chr. von Kleisthenes erstmals schriftlich ausgearbeitet. Der Hintergrund dieser Entwicklung zur Demokratie war vor allem sozialer, aber auch kriegerischer sowie wirtschaftlicher Natur.
Gesellschaftlicher Wandel
Zuvor beherrschten traditionell adlige Familien den Staat („Oligarchie“).1 Ihre Macht und ihr Reichtum gründeten sich auf Grundbesitz samt Bodenschätzen. Aber durch den Ausbau von Handelsbeziehungen, durch zunehmenden Import und Export gelangte ein städtisches Bürgertum zu Wohlstand und Reichtum. Die Mitglieder dieser neu erstarkten Handelsschichten orientierten sich persönlich auf sozialen Aufstieg und politisch eher auf Expansion als auf Bewahrung der Verhältnisse. Durch ihre demokratische Beteiligung wurde laut Thukydides die Vermehrung von Reichtum vom Ziel des Einzelnen auch zu einem Ziel des Staates.2
Ein weiteres Motiv für die Durchsetzung der demokratischen Beteiligungen war von Anfang an auch, dass sich Athen mit seinem wachsenden Netz von Handelsbeziehungen meist im kalten oder heißen Krieg befand. Dabei war man letztlich – neben allen Söldnern und bezahlten Hilfskräften – auf die Mitwirkung der männlichen bewaffneten und waffenfähigen Stadtbürger angewiesen. Namentlich in den Auseinandersetzungen mit Persien um die kleinasiatischen Kolonien3 wurden zeitweilig sogar (Schuld-)Sklaven zu wehrfähigen Vollbürgern gemacht.4
Wirtschaftlicher Hintergrund
Die Blütezeit der Demokratie in Athen im 5. Jh. v. Chr. geht einher mit dessen wirtschaftlicher und politischer Erstarkung. In und nach den Perserkriegen wurden die Silberbergwerke in Attika systematisch mit Tausenden von Sklaven unter staatlicher Lenkung ausgebeutet. Damit wurde u.a. eine mächtige Kriegsflotte finanziert. Durch die Gründung seines Attischen Seebunds wurde Athen dann zur beherrschenden Macht im Mittelmeer. Die großen Geldquellen
– Silberbergbau,
– die Überführung der Kriegskasse des Attischen Seebundes nach Athen sowie
– hohe laufende Abgaben der Verbündeten und Zölle, die im Hafen von Athen (Piräus) erhoben wurden:
Das alles sorgte für beträchtliche staatliche und private Einnahmen. Beispielhaft für diese Zeit steht die Tempelanlage auf der Akropolis. Ihr gigantischer Ausbau in mehreren Phasen symbolisierte nicht nur den wachsenden Wohlstand der Stadt, sondern er war auch ein riesiges staatliches Wirtschaftsförderungs-Programm für Handwerk und Handel.5
Die Verteilung der Macht
Volksversammlung, Senat und Besetzung der Ämter
In dieser Hoch-Zeit der Demokratie gab es in Athen eine allgemeine Volksversammlung. Ihr gehörten prinzipiell alle männlichen Stadtbürger an. Sie trat mindestens einmal im Monat zusammen und regelte die grundlegenden Fragen durch Mehrheitsbeschluss, auch z.B. über Krieg und Frieden. Darüber stand für die Einzelheiten die geschäftsführende, ständige Ratsversammlung/Senat, bestehend aus 500 Delegierten. Dafür schickten die 10 Stadtteile freiwillige Kandidaten ins Rennen. Unter diesen wurden die Ratssitze – 50 pro Stadtteil – öffentlich ausgelost.
Auch die vorherrschenden Organe der Rechtsprechung (Volksgerichtshöfe und Appellationsgericht) wurden per Los aus der Bevölkerung besetzt. Sie sollten übrigens prinzipiell innerhalb eines Tages ein Urteil fällen.
Los oder Wahl entschied über die Besetzung der meisten – kleinteilig differenzierten – Verwaltungsämter. Diese waren jedoch nach Wichtigkeit gestaffelt und weiter „oben“ nur für höhere Einkommensklassen zugänglich [Genaueres im folgenden Abschnitt].
Die Besetzung der Ämter, auch die städtischen Rats- und Gerichts-Sitze, waren generell auf ein Jahr begrenzt. Verwaltungs-Ämter dauerten oft kürzer, teilweise gar nur einen Tag (z.B. die Marktaufsicht).
Eine Wiederwahl war nur bei den höchsten Ämtern möglich. In die Ratsversammlung/Senat konnte man als Stadtbezirks-Delegierter immerhin zweimal gelost werden.
Zusammen mit den stadtteilbezogenen Selbstverwaltungen waren so prinzipiell außerordentlich viele Staatsbürger aktiv in das Gemeinwesen einbezogen. In den demokratischen Versammlungen und Gremien wurde von allen Beteiligten erwartet, dass sie eindeutig Position beziehen: dafür oder dagegen. Abwartendes Schweigen oder allgemeines Gelaber und unbestimmtes Herumgeeiere waren verpönt und wurden mitunter in Gremien gar bestraft. Dennoch gab es nie wirklich einen Mangel an Kandidaten, die diese Verantwortung übernehmen wollten.

Ganz pragmatisch spiegelte die Streuung und Begrenzung von Sitzen und Ämtern die zwei Seiten des athenischen Staatswesens wider. Genauer: die Auffassung vom Individuum darin. Nämlich einerseits, dass der Einzelne sich selbst als ein Teil des Gemeinwesens verstand. Dieses Selbstverständnis kommt in allen Schriften und Reden der Zeit zum Ausdruck.6 Andererseits – in ihrer inhaltlichen und zeitlichen Begrenzung – manifestierte sich zugleich ein lebendiges Misstrauen gegen individuelle Interessen und Machtstreben. Das zeigte sich auch geschichtlich immer wieder.7
Soziale Staffelung der Ämter
Bei den ausführenden Organen (heute würde man sagen: in der „Exekutive“) gab es aber gesetzliche Abstufungen. In die wichtigen Ämter konnten nur Angehörige höherer Klassen gewählt werden, in die wichtigsten Positionen nur Angehörige der vermögendsten Klassen.
Das betraf zum einen das oberste Finanzamt („Schatzverwalter“). Allerdings haftete dieser „Finanzminister“ bei Fehlern auch mit seinem persönlichen Vermögen. Eine bezeichnende Sonderstellung hatten die Befehlshaber der Kriegsschiffe (Trieren), die Triearchen. Durch ihre Wahl waren sie verpflichtet, während ihrer formell einjährigen Amtszeit ein Schlachtschiff zu befehligen – sie mussten es aber auch samt Ausrüstung und Mannschaft während ihrer Amtszeit finanzieren. Das schränkte die Anzahl der in Frage kommenden Personen von vornherein stark ein.8
Politische und militärische Klassen
Die politischen (Zensus-)Klassen waren verfassungsmäßig festgelegt. Sie gliederten sich wesentlich entsprechend den Ständen im Krieg:
● die Reiter/ Ritter: Sie waren reich genug und verpflichtet, zur Schlacht ein Pferd samt entsprechender Rüstung beizubringen. Sie entstammten den ersten beiden Zensus-Klassen, also dem Landadel mit Großländereien und Bodenschätzen (z.B. Silberminen), aber auch Familien mit reichen Handels- und Fabrikationsbetrieben.
● die so genannten Schwerbewaffneten (Hopliten). Sie konnten sich eine Rüstung mit Schwert und Schild leisten. Im Krieg kämpften sie in der infanteristischen, strategisch zentralen Formation der Schlachtreihe (φάλαγξ /Phálanx).
● und schließlich die eher besitzlosen sogenannten Leichtbewaffneten (Theten). Sie wurden staatlich oder privat ausgerüstet, zogen notfalls aber auch mit Steinen, Stöcken und Ackergeräten in den Kampf. Die Theten aber waren von den Verwaltungsämtern gänzlich (später fast ganz) ausgeschlossen.
Im übrigen dienten viele Bürger der unteren Zensus-Klassen auch als Ruderer auf den Schlachtschiffen (Trieren). Wegen ihrer langen Abwesenheit bekamen sie schon früh einen Sold.9
Vom Strategen zum Staatschef
Den obersten Klassen vorbehalten war insbesondere auch das politisch höchst einflussreiche Amt eines Strategen (Heerführer bis Oberbefehlshaber). Formell wurden davon jeweils 10 gleichzeitig gewählt mit unbegrenzter Möglichkeit zur Wiederwahl. Das war die entscheidende Karrieremöglichkeit. Für die verschiedenen kriegerischen und politischen Vorhaben wurden einzelne Strategen von Volksversammlung und Senat mit der Planung und Durchführung beauftragt. Mit zunehmender Erfahrung und Vernetzung konnte man in dieser Funktion an politischem Einfluss zulegen. Und so konnte man durch immer mehr und neue Aufgaben bis hin zum langjährigen faktischen Staatschef aufsteigen.
Es liegt auf der Hand, dass Bewerber und vor allem Wiederbewerber für dieses Amt des Strategen in ihren politischen Positionen und Reden nicht gerade von tiefem Pazifismus durchdrungen waren: Nur im Kriegszustand hatten sie ein Höchstmaß an Bedeutung und Karrieremöglichkeit. Allerdings gehörte für solche Kriegsführer der Tod auf dem Schlachtfeld zum Berufsrisiko, ebenso die Verbannung wegen zu großer Machtanhäufung.
Von Perikles zu Kleon
In der Zeit vor und noch zu Beginn des Peloponnesischen Krieges10 war der einflussreichste Stratege zweifellos Perikles. Vierzehn Jahre lang war er in dieser Position faktischer Staatschef. Sein Name steht schon bei dem zeitgenössischen Geschichtsschreiber Thukydides geradezu für die Blüte und den Ausbau der Athener Demokratie.11 Schließlich betrieb Perikles – nicht zuletzt aus persönlichen Motiven des Machterhalts12 – dann den Kriegseintritt. Nach seinem Tod 429 v.Chr. durch eine Seuche13 übernahm im Zuge des fortdauernden Krieges dann der neureiche „Emporkömmling“ Kleon die Meinungsführerschaft. Auf der Rednertribüne der Volksversammlung, wo zuvor geschliffene Sätze und Argumentationsketten vorherrschten, soll Kleon als erster unbeherrscht geschrien und vulgär geschimpft haben. Inhaltlich stand seine populistische Rhetorik für eine Politik der harten Hand gegenüber dem Ausland und ein taktisches Verhältnis zu demokratischen Entscheidungen.14 Sein Reichtum beruhte auf dem Betrieb einer Gerberei, der fabrikartigen Massenproduktion von Lederwaren. Auf Krieg ausgerichtet und durch kommerzielle Kreise nach vorn geschoben, starb Kleon schließlich 422 v.Chr. als Stratege auf dem Schlachtfeld.
Von Nikias zu Alkibiades
Verbunden mit Rückschlägen im Krieg folgte dann ein Zwischenspiel mit der Vorherrschaft des eher friedensgeneigten Nikias, unter dem der Krieg durch einen brüchigen Friedensvertrag zumindest eingedämmt wurde („Nikiasfrieden“). Nikias‘ Reichtum stammte aus der Ausbeutung von Silberminen für den Athener Staatshaushalt.15
Doch schon nach wenigen Jahren setzte sich Alkibiades als meinungsführender Stratege durch. Der war ein Neffe und Ziehsohn des Perikles und wie dieser Mitglied einer alteingesessenen, mächtigen und reichen Familie. Er mobilisierte – in recht kreativem Umgang mit der Wahrheit und mittels Social Media in Form von „Augenzeugenberichten“ – zum großen Feldzug gegen das reiche Sizilien.16 Als er aber kurz nach seiner Abreise noch nachträglich und in Abwesenheit wegen Frevel zum Tode verurteilt wurde,17 wechselte er mitten im Krieg die Seiten und triggerte dann Sparta erneut zum Kampf gegen Athen. Dazu machte er ihnen weis, dass Athens Plan die Eroberung der gesamten, damals bekannten Mittelmeerwelt bis nach Nordafrika und Gibraltar wäre.18
Kleon und Alkibiades, beide in ihrem populistischen Auftreten eher auf Egozentrik und Expansionismus gebürstet, hatten in Nikias ihren gemäßigten Gegenspieler in den Volksversammlungen und im Senat. Dennoch kam Nikias dann als einer der Strategen im Sizilien-Feldzug in Kriegsgefangenschaft elend um. Dass Perikles schon zu Beginn des Niedergangs der Demokratie im Zuge des Peloponnesischen Krieges starb, dürfte seiner Rolle in der Geschichte als Protagonist der Demokratie zugute gekommen sein.
Die Mehrheit der Bevölkerung war von der Demokratie ausgeschlossen
Die demokratische Verfassung war damals einmalig und revolutionär. Jedoch schon rein zahlenmäßig war die Mehrheit der Bewohner*innen Athens auch formell überhaupt nicht beteiligt. Zu Volksversammlung, Wahl und Ämtern waren nämlich grundsätzlich nur freie männliche Stadtbürger über 30 berechtigt.
Mithin waren von den demokratischen Einrichtungen und Willensbildungsprozessen ausgeschlossen:
● alle Frauen, egal aus welcher Einkommensklasse
● die zahlreichen Sklaven in den Haushalten, Bauernhöfen und Fertigungsstätten. Ihre Stellung und Lebenssituation konnte höchst unterschiedlich sein: als Hausbedienstete oder als Helfer eines Kleinbauern, als Handwerker oder aber als Teil des Arbeitsheeres auf Plantagen und in fabrikartigen Fertigungsstätten, in Steinbrüchen und Bergwerken oder im Bordell – in dieser Reihenfolge mit abnehmender Lebenserwartung.19
● alle „Fremdstämmigen“, die so genannten Metöken („Mitbewohner“). Das waren meist Griechen, Bürger anderer Städte, aber sie konnten keine athenischen Eltern vorweisen. Sie blieben „Fremdstämmige“ ohne politische Bürgerrechte, auch in den Folgegenerationen. Dennoch waren sie steuer- und wehrpflichtig, durften aber kein Land erwerben. Daher bestritten diese Einwohner mit Migrationshintergrund ein Großteil des Handels und des Handwerks. Im Zuge des Krieges gab es zudem immer mehr Kriegsflüchtlinge aus dem näheren und weiteren Umland. Diese versuchten sich dann als Gelegenheitsjobber und Kleinsthändler in der Stadt durchzuschlagen.
● Bauern waren immerhin formell Vollbürger, wenn sie (noch) auf dem Land innerhalb der attischen Halbinsel wohnten. Aber von den Kleinbauern, die dort ihre eigenen oder gepachteten Felder selbst bestellten, waren viele faktisch ausgeschlossen. Ihre Anreise nach Athen betrug bis zu 70 km. Ohne Reittier war das eine Reise von mehreren Tagen. Und in der Regel hatten sie auch keine Unterkunft in der Stadt. Daher konnten sie ganz praktisch nur schwerlich an den eintägigen Versammlungen teilnehmen oder Ämter wahrnehmen.
Für die kleineren Bauern bedeutete eine Ausdehnung des athenischen Handels- und Bündnis-Systems zunehmende Konkurrenz durch importierte Nahrungsmittel. Zwangsabgaben und Zwangsbedingungen der „Bündnispartner“ ließen die Importe zusätzlich steigen und die Preise sinken. Im Krieg litten dann die Bauern außerdem unter der alljährlichen und systematischen Verwüstung ihrer Felder. Dies wiederum führte zu noch mehr Importen von Nahrungsmitteln. So füllte sich die Stadt auch mit verarmten Bauern ohne festes Einkommen.
Informelles Machtgefälle
Die begüterten Familien aus Adel und Handelsbürgertum hatten selbst innerhalb des Systems formell gleicher Stimmbürger ungleich größere Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten. Aus ihren politischen Klassen stammten nicht nur die formellen Amtsträger und Entscheider in den Spitzenpositionen. Durch ihre finanzielle Unabhängigkeit hatten diese Familien auch das Wissen und die Zeit, politische Prozesse zu gestalten. Sie und ihre Söhne hatten eine umfangreiche Ausbildung und Bildung durchlaufen, namentlich in angewandter Logik und der hoch angesehenen „Rhetorik“ (Redekunst) [dazu unten unter 3.2. Meinungsbildung… mehr].
Untereinander gut vernetzt, stellten diese Familien die vielen weiteren politischen Influenzer und Volksredner. Sie waren überall in den Gremien und in der Öffentlichkeit, in der Volksversammlung und auf dem Marktplatz vertreten. Aus ihren Reihen kam dann auch die Kritik an einer späteren Besoldung der Ämter.[siehe unten, 3.4.] In Athen gab es einerseits keine – gar sozial übergreifende oder integrierende – politischen Parteien. Andererseits aber gab es durchaus informelle, sozial und politisch definierte Interessenzusammenschlüsse. Zunehmend gelang es vermögenden Athenern auch durch Wahlgeschenke oder Wohltätigkeits-Kampagnen, die Meinung der Ärmeren zu ihren Gunsten zu beeinflussen.20

Interessenkoalitionen
Strategen aus den obersten Klassen, die nach Macht und politischer Karriere strebten, konnten sich vor allem auf das emporgekommene und aufsteigende Handelsbürgertum stützen. Zugespitzt und pauschal formuliert: In den demokratischen Abläufen gab es oft eine „natürliche“, zumindest naheliegende Interessenkoalition, die zu Expansion und Krieg neigte. Nämlich zwischen
● den Strategen, die ihre Karriere leichter im Krieg ausbauen konnten,
● den Handelsbürgern, die durch Erweiterung des Bündnis- und Handelssystems reich wurden und im Krieg noch mehr zu gewinnen hofften.21
● und, tragischerweise, den nicht zuletzt durch den Krieg vertriebenen und verarmten Schichten. Diese setzten ihre wirtschaftliche Hoffnung auf Langzeit-Sold bzw. Berufssoldatentum, Plünderung und „Armenspenden“ aus den Kriegsbeuten der Mächtigen.
Ebenfalls zugespitzt aus Thukydides zu entnehmen: In dieser Gemengelage verkörperte der alte, seit jeher reiche Landadel oft eher den zurückhaltenderen, risikoscheuen, gar „pazifistischeren“ Flügel.
Stärken und Schwächen der Athener Demokratie in der zeitgenössischen Diskussion
Zur Wiedergabe der damaligen Diskussion vorweg eine Warnung: Unser Wissen über die demokratischen Einrichtungen und Abläufe ist begrenzt. Die Quellen sind unvollständig, oft aus späteren Jahrhunderten und – insbesondere bezüglich der revolutionär neuen Demokratie – alles andere als unparteiisch. Geschrieben haben fast ausschließlich Angehörige der obersten Klassen. Sie mussten nicht dem täglichen Broterwerb nachgehen. Häufig hatten sie auch kein Interesse am Ausbau der demokratischen Prinzipien – sofern es ihnen nicht gerade aktuell nützte.
Das Ideal
Der faktische Staats- und Meinungsführer in der Blütezeit der Demokratie, Perikles, pries in einer berühmten Rede die demokratischen Prinzipien Athens. Sie galten ihm als Lebensart und Ideal zugleich, als Vereinigung von individuellen und staatlichen Interessen:
„Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus und zugleich um unsere Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt,22 ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil…. und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch. Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet.“23
Für Perikles sind also Privatmensch und Staatsbürger zwei Seiten derselben Medaille, besser gesagt desselben Menschen. Dabei ist es egal, in welcher Branche der einzelne Bürger wie seinen Lebensunterhalt bestreitet. Perikles sieht diese Vielfalt samt der politischen Meinungsbildung und Engagement jedes Einzelnen als Grundlage für das demokratische Staatswesen. Die Erörterung ist für ihn eine notwendige, keineswegs lästige Voraussetzung für vernünftige und furchtlose Entscheidungen. So führt Perikles zuvor in seiner Rede für den Krieg aus: Durch das vorherige Durchdenken und Abwägen sind diese Entscheidungen dann in der Durchführung mehrheitlich und nachhaltig tragfähig, selbst wenn sie gefährlich sein könnten. Mit „gefährlich“ ist besonders hier die von ihm geforderte Entscheidung zum Krieg gemeint. In Sparta dagegen, so argumentiert Perikles, fühlten sich die Bürger an die Beschlüsse ihres Staates wenig gebunden, weil sie nicht von ihnen selbst stammten. Daher würden sie sie dann auch im Krieg wohl doch nicht so tapfer verteidigen, wie ihr „spartanisches“ Image es nahelege.24
Andererseits auch: Eine Beschreibung der demokratischen Verfassung als Garant formeller Gleichheit und Einbeziehung aller Bürger mit verschiedenen Tätigkeiten lässt die von uns oben benannten standesmäßigen und wirtschaftlichen Unterschiede außen vor. So können sie als nachgeordnet erscheinen. Perikles formuliert es so:
„Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner fremden…. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft [Demokratie]. Nach dem Gesetz haben in den Streitigkeiten der Bürger alle ihr gleiches Teil, der Geltung nach aber hat im öffentlichen Wesen den Vorzug, wer sich irgendwie Ansehen erworben hat, nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit, sondern nach seinem Verdienst. Und ebenso wird keiner aus Armut, wenn er für die Stadt etwas leisten könnte, durch die Unscheinbarkeit seines Namens verhindert.“25
Hier wird die Herrschaft der Vielen, synonym gebraucht für „Demokratie“, der „Herrschaft der Wenigen“ (Oligarchie) gegenübergestellt. Geschickt umgeht die Formulierung von der „größeren Zahl“ der beteiligten Bürger sowohl die Tatsache, dass nur eine Minderheit der Bevölkerung demokratische Rechte besaß, als auch die sozialen Klassifizierungen, etwa bei der Ämtervergabe. Durch diese Unterschiede aber waren die Chancen auf jenes „Verdienst“ um den Staat, etwa in Ämtern, ungleich verteilt. Damit war das für Perikles entscheidende gesellschaftliche „Ansehen“, namentlich politischer Einfluss, durchaus unterschiedlich schwer zu erlangen. Aus heutiger Soziologie könnte man hinzufügen: Gesellschaftlicher Erfolg und Anerkennung als Mittel der Einbindung des Einzelnen in das Gemeinwesen konnten so nur bedingt wirksam sein.
Meinungsbildung in der Diskussion – Gibt es eine absolute Wahrheit?
In den mächtigen, herrschenden Familien spielte die Ausbildung des Nachwuchses eine wichtige Rolle für die politische Karriere. Diese Ausbildung betrieben häufig so genannte Sophisten. Das waren oft gelehrte Reisende mit einem speziellen Schul-Geschäftsmodell: Sie boten auf dem athenischen Markt Proben ihrer Denk-Kunst. Dabei rühmten sie sich etwa, dass sie zu jedem möglichen Thema sowohl die eine Position als Wahrheit vertreten, als auch deren Gegenthese schlüssig beweisen könnten. Damit warben sie für ihre hochbezahlten Seminare und Schulen für die Söhne der Bessergestellten.
Meinungsbildung und „alternative Wahrheiten“
So entstand die Herrschaft der „Sophistik“ und „Rhetorik“ in der neuartigen öffentlichen Meinungsbildung – heute würde man sagen: die professionelle Entwicklung von Kommunikationsstrategien, Narrativen, Framings, Wordings und mehr oder minder alternativen Wahrheiten. Dagegen war die noch junge Demokratie recht hilflos. Es gab kaum Erfahrung, Mechanismen und institutionalisierte Medien des öffentlichen Diskurses, ihr zu begegnen. (Keine erfahrenen Zeitungsredaktionen, keine Nachrichten- und Feature-Sender, keine digitalen Foren und verantwortlich gemasterten Social Media.)
In seiner Komödie „Die Wolken“26 unterzog Aristophanes schon frühzeitig derlei Wahrheits-Akrobatiker und Begriffs-Jongleure samt deren „sophistischen“ Lehrmeistern einer ätzenden Kritik. Und auch Sokrates nahm sie und ihre Sprechblasen immer wieder gern auseinander. Er stellte die gefeierten Redner und ihre Lehrer auf dem Marktplatz live zu seinen berühmten Diskussions-Battles, umringt von einer oft jugendlichen Fangemeinde. Das fanden die Betroffenen und überhaupt die Mächtigen überwiegend nicht witzig.27
Wahrheit und Meinungsvielfalt
Allerdings spielten seriöse Sophisten durchaus auch eine positive Rolle,28 nämlich als Aufklärer (und eben Erzieher) gegenüber dem althergebrachten, „vorsokratischen“ und nachfolgend dem idealistischen philosophischen Grundsatz. Diesem zufolge liege nämlich das „eigentlich Wesentliche“ der Welt in einem Urgrund, in einem Urstoff (Vorsokratiker) oder auch in einer regulierenden Idee (Platon). Denen gegenüber hätte die reale Welt nur eine nachgeordnete, abgeleitete Bedeutung, nämlich als deren Erscheinungsformen. Für die seriösen Sophisten hingegen lag die Wahrheit in der sichtbaren Realität und den Beziehungen ihrer Elemente zueinander. Diese gelte es durch Logik und Argumentation zu begreifen und zu gestalten.

Die Diskussion um die „Sophistik“ spiegelt die Schwierigkeiten im Leben einer pluralistischen Demokratie. Die Sophistik stand dafür, dass man durch verschiedene Erfahrung und Anschauung der Dinge durchaus zu unterschiedlichen Folgerungen und Meinungen kommen konnte. Sie lehnte die Konstruktion ab, dass es nur eine (göttliche, herkömmliche, unhinterfragbare) Wahrheit gäbe. Insofern war die „Sophistik“ – ebenso wie die kritisch-dialogische Analyse eines Sokrates – geradezu Produkt und Grundlage der sich entfaltenden Demokratie. Ihre Grundhaltung entspricht einer Gesellschaft mit vielfältigen sozialen Gliederungen und lebenspraktischen Betätigungen. Entscheidend ist für die „Sophisten“ die Betrachtung der Dinge, ihre unvoreingenommene Analyse und die Diskussion. Nicht von ungefähr hatte sich der Politiker Perikles mit „sophistischen“ Beratern umgeben.29
Erkenntnis durch Diskurs
Die Gegner der „Sophisten“ hielten hingegen an dem herkömmlichen Bild einer allgemeingültigen Weltordnung und ihrer unverrückbaren Wahrheit fest. Ihr Hauptargument: Wenn man anfinge, diese zu diskutieren und in Frage zu stellen, gäbe es keine Wahrheit mehr, sondern nur noch beliebige Meinungen. Ihr Vorwurf gegen die „Sophisten“ lautete daher kurz gefasst: Wenn Wahrheit relativ wird, wird sie zur Prostituierten von (finanziellen) Interessen. Das untergrabe auf längere Sicht die religiösen und moralischen Fundamente des Gemeinwesens.
Allerdings hatten diese Befürworter einer absoluten Wahrheit in einer zunehmend komplizierten und sich wandelnden Welt und Gesellschaft Schwierigkeiten. Letztlich gelang es weder ihnen noch den Göttern, jene allübergreifende Wahrheit auf Dauer unverändert aufzustellen oder sie zumindest durchgängig aufrecht zu erhalten. Das von Perikles als Athener Lebensart beschworene Erörtern und Abwägen mit Beteiligung aller Bürger30 wurde – mal besser, mal schlechter – innerhalb und außerhalb der demokratischen Einrichtungen zur alternativlosen, permanenten Aufgabe. Das sokratische Modell des öffentlichen Diskurses im Dialog – in Rede und Gegenrede mit Verpflichtung auf Argumente, Begründungen und Schlüssigkeit – war auch mit seinem Todesurteil (399 v.Chr.) nicht mehr aus der Welt zu schaffen.
Demokratie und Führung
Schon damals war auch das Verhältnis von Demokratie und Führerschaft, von Aufklärung, Verführung und Verführbarkeit der Massen als Problem erkannt und hochumstritten.
Wer herrscht über die Entscheidungsprozesse?
Der dem Adel entstammende Geschichtsschreiber Thukydides sah es so:
„Die Masse ist in ihren Auffassungen unstet und wetterwendisch, für ihre Fehlleistungen macht sie andere verantwortlich, vor allem die Politiker, mitunter die Wahrsager. So sind vernünftige Beschlüsse nicht zu erwarten, wenn das Volk den Entscheidungsprozess beherrscht und die Politiker in Furcht vor ihm leben. Da dies aber oft genug der Fall ist, geben nicht sachgerechte Kriterien immer wieder den Ausschlag.“ 31
Es sei daher die Aufgabe der führenden Männer, das Volk weitblickend durch Überzeugung zum Richtigen und Besseren zu bewegen und die Entscheidungsprozesse ihrerseits zu beherrschen.

(römische Büste ca. 100 v.Chr.)
Opportunistische Volkstümelei und Entscheidungsschwäche bei den Politikern verachtete Thukydides genau so sehr wie den autokratischen Populismus eines Kleon. Über dessen Vorgänger, den Staatschef Perikles (in dieser Funktion 443 v. bis 429 v. Chr.) hingegen schrieb er bewundernd : „Es war dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit die Herrschaft des Ersten Mannes.“32 An mehreren Wendepunkten gibt Thukydides der emotionalen, kurzsichtigen Haltung des Volkes bzw. der Volksversammlung eine Mitschuld an dem opportunistischen, taktischen oder auch großsprecherischen Verhalten der Politiker. Und plastisch schildert er, wie sich die Volksversammlung zuerst durch gewagte Bereicherungsversprechen bedenkenlos bereitwillig zum Krieg gegen Sizilien mitreißen lässt – und wie man nach der katastrophalen Niederlage von dem eigenen Entschluss nichts mehr wissen will und lieber woanders nach Schuldigen sucht.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“
Auf der anderen Seite bestand ein tief sitzendes Misstrauen gerade bei den ärmeren Schichten gegenüber Großmannssucht, Machtkonzentration und Machtmissbrauch bei seinen politischen Führern.
Ein Beispiel dafür bieten die aus dem Ruder gelaufenen Baukosten für das Großprojekt auf der Akropolis: Das Volk misstraute auch seinem mächtigsten, wenngleich populären Politiker Perikles. Es beargwöhnte zunehmend den Gigantismus des Projekts. Konkret wurde der Vorwurf der Veruntreuung von Steuergeldern erhoben: Der Chefbaumeister und Freund des Perikles habe Gold für die Statuen unterschlagen. Zum anderen gab es (wieder einmal) den Verdacht auf Größenwahn: Der Baumeister habe ein Bild von sich und seinem Amigo Perikles zwischen Götterbildern im Tempel verewigt. Das führte letztlich zur Inhaftierung des Baumeisters wegen „Hybris“. Perikles musste im Laufe der Prozesse fürchten, in den Bauskandal hineingezogen, in seiner Karriere gefährdet oder gar selbst angeklagt zu werden. Darin sieht auch der Geschichtsschreiber Thukydides kritisch ein entscheidendes Motiv des Perikles, den Peloponnesischen Krieg nun bewusst auszulösen. Aristophanes schreibt später in einer Komödie sogar, dass Perikles den „Zorn“ des Volkes „gefürchtet“ habe, seinen „bissigen Charakter“, und deswegen den Krieg mit einem „kleinen Funken“ gezündet habe.33
Und auch hinter der Anklage wegen Frevels gegen Alkibiades34 stand dessen protziges Leben mit sexuellem Freistil, riesigem Rennstall, ausufernden Partys und zahllosen „Amigos“ aus allen Eliten. Eine solche Ego-Zurschaustellung war bis dahin unüblich und verpönt. Und es nährte den Verdacht, dass das Wohl des Athener Staates bei diesem Politführer nicht unbedingt an erster Stelle stünde.
In beiden Fällen erwies sich das Misstrauen als keineswegs unberechtigt. Und auch in der Athener Geschichte gab es wiederholt blutige Erfahrungen mit Initiativen mächtiger Männer und Bündnisse zur Wiedereinführung einer oligarchischen (Adels-)Verfassung oder zur Einführung einer diktatorischen „Tyrannis“. Dieses Misstrauen innerhalb des Volkes wird – nicht nur von Thukydides, sondern auch von anderen Geschichtsschreibern aus den oligarchischen Kreisen – gleichwohl gerne als unangebracht, politisch irreführend oder zumindest übertrieben angeprangert.
Machtbegrenzung durch Institutionen
Schon der frühere Verfassungsreformer Kleisthenes (vielleicht sogar schon Solon) hatte hingegen vorhergesehen, dass auch in der Demokratie einzelne Menschen zu viel Macht anhäufen und damit der Demokratie selbst gefährlich werden könnten.35 Daher wurde zum einen die Wiederbesetzung für die meisten Posten begrenzt (die Strategen sollten ja eigentlich nur für den Ausnahmefall des Krieges eine Funktion haben). Zum anderen wurde die Möglichkeit eingerichtet, Personen auf Zeit in Verbannung zu schicken, wenn diese zu mächtig oder machtbesessen erschienen. Das geschah demokratisch durch regelmäßige Abstimmungen. Diese Abstimmungen wurden „Scherbengerichte“ genannt, weil die Namen der „Gewählten“ in Tonscherben geritzt wurden.36
Idealismus vs. Realismus: Sollen Amtsinhaber und Volksvertreter Geld bekommen?
Zur Vollversammlung konnten theoretisch alle (männlichen) Stadtbürger kommen. Allerdings kamen offenbar bei weitem nicht alle. Der Versammlungsplatz am Fuße der Akropolis fasste nämlich zu jener Zeit etwa 6.000 Plätze bei ca. 30.000 Stimmbürgern; er konnte also maximal 20 Prozent der Berechtigten aufnehmen.37 Eine Ursache für die geringe Anzahl verstärkte sich im Peloponnesischen Krieg. Denn diejenigen, die gerade in „Auslandseinsätzen“ außerhalb von Athen Kriegsdienst leisteten, konnten nicht an der Versammlung teilnehmen. Aber das allgemeinere Problem betraf all diejenigen, die auf ihre Arbeit als Einkommensquelle angewiesen waren: Bei den Versammlungen oder bei der Wahrnehmung von Ämtern musste man zumindest auf seinen Tagesverdienst verzichten. Und eine Anreise vom Land kostete manchmal mehrere Tage sowie eine Unterkunft in der Stadt. Das konnte sich nicht jeder leisten.
Erst Perikles führte gegen Ende der allgemeinen Volksversammlungen38 schrittweise gegen viele Widerstände eine Besoldung (Diäten) für die Amtsinhaber und Versammlungsteilnehmer ein. Die Besoldung sorgte also dafür, dass sich im Prinzip jedermann, unabhängig von seinem Einkommen, die Freistellung zur öffentlichen Aufgabe leisten konnte. Die Höhe der Diäten dürfte ungefähr dem zum Unterhalt notwendigen Verdienst unterer Schichten bei einfacher Ernährung entsprochen haben. 39
Perikles stammte aus einer begüterten Familie. Gegen rivalisierende Kräfte stützte er sich für seine ambitionierten politischen Ziele mehr auf die weniger Begüterten. Ähnlich taten es dann auch seine Nachfolger Kleon und Alkibiades. Die Adligen galten ihm wohl eher als konservativ expansionsfeindlich oder gar als „Spartaversteher“. Mit diesem Kalkül bei der Besoldung der Ärmeren lieferte er seinen Gegnern natürlich durchaus taktische Argumente.
Die Besoldung von Ämtern war gerade bei Wohlhabenden aber auch grundsätzlich umstritten. Sie argwöhnten: Wenn man ein politisches Engagement für Geld wahrnahm, wäre man womöglich eher an der Einkunftsquelle als an dem Gemeinwohl interessiert. Und so würde man auch eher populistisch dem Volk nach dem Munde reden, um seine Stellung und Geldquelle zu festigen. Allerdings taten sich die Befürworter des geldlosen Ehrenamtes im Verlauf der Geschichte schwer bei dem Nachweis, dass Begüterte sich automatisch nur an den Idealen des Gemeinwohls orientierten – und nicht auch an dem Ausbau von Macht und Reichtum. Zudem behielten sie sich in Athen ohnehin bis zuletzt u.a. das mächtige Amt eines Strategen vor.
Platons Gegenmodell
Der bis heute berühmteste Kritiker der Demokratie im alten Athen war der idealistische Philosoph und Staatstheoretiker Platon (428 – 348 v. Chr.). Er entwarf zunächst einen Idealstaat, in dem die „Besten“ und Weisen als Staatslenker und „Wächter“ des Gemeinwesens fungieren sollten. Diese sollten zuvor sorgfältig herangezüchtet und (philosophisch) erzogen werden.40 Mit zunehmendem Alter musste Platon jedoch feststellen: Die von ihm unterstützten, für würdig befundenen Staatsführer in den verschiedenen Stadtstaaten hielten dem Praxistest nicht stand. Wenn sie zur Macht gekommen waren, erwiesen sie sich regelmäßig doch nicht als gute und weise Menschen, sondern ganz banal als macht- und geldgierige Autokraten. Aus heutiger Erfahrung könnte man es verkürzt so formulieren: Macht korrumpiert.
Herrschaft des Gesetzes
Daher änderte Platon seinen Ansatz für einen Idealstaat: In seinem umfangreichen Spätwerk plädierte er nun sozusagen als „zweitbeste“ Lösung für allgemeine Gesetze, die, unabhängig von einzelnen Menschen, für alle – also für Beherrschte und Herrscher – gleich gelten sollten.41
„Denn einem Staate, in welchem das Gesetz unter der Willkür der Herrscher steht und [wo das Gesetz selbst] ohne Gewalt ist, sehe ich den Untergang bevorstehen; wo es [= das Gesetz] dagegen Herr ist über die Herrscher und sie [= die Herrscher] Diener des Gesetzes sind, da sehe ich Wohlstand und alle die Güter erblühen, welche die Götter Staaten verleihen.“42
Diesen Ansatz führte sein Schüler Aristoteles dann als Prinzip der Gewaltenteilung fort. Es beinhaltet insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz und der Gesetzgebung von der Regierung. In der Ausarbeitung durch John Locke und den Aufklärer Montesquieu ist dieses Prinzip heute Grundlage jedes zivilisierten Staates.
In seinem Spätwerk schlägt Platon auch nicht mehr die Herrschaft herangezüchteter „Wächter“ als Führer des Staates vor. Vielmehr entwickelt er ein recht kompliziertes, mehrstufiges System aus Wahlen und Losverfahren, das sozial und ideologisch ausgleichend eine breite Streuung sichern und die Bildung von Seilschaften und Interessengruppen vermeiden sollte. Mit dem Losverfahren verband der Idealist Platon die Hoffnung auf die Einwirkung göttlicher Vernunft, der er sicherlich mehr traute als der menschlichen. Aber Platon ist sich nun auch sicher: Auf Dauer werde das Volk den Staat mit seiner ordnenden und leitenden Funktion nur dann akzeptieren und mittragen, wenn es verfasst demokratisch an seinen Entscheidungen beteiligt sei.43
Innerer Friede als Basis der Gesellschaft
Platon stellt die grundsätzliche Frage, worauf die Existenz einer staatlichen Gemeinschaft eigentlich beruht. Und dabei steht die Verfassungsform beim „späten“ Platon nicht einmal an erster Stelle. Er lässt dazu von seinem fiktiven Gesprächspartner die gängige Auffassung vortragen, dass die Existenz jedes Staates vor allem auf seiner Wehrhaftigkeit gegen äußere Feinde beruhe. Daher müsse sich jeder Staat vor allem auf den äußeren Krieg ausrichten. Diese Ansicht aber aber kritisiert Platon als „spartanisch“ und falsch.44 Grundlegend für die Existenz des staatlichen Gemeinwesens sei vielmehr dessen innerer Friede. Ohne inneren Frieden gebe es kein Gemeinwesen. Daher sei die soziale Ungleichheit die größte Gefährdung des Staates; die einzige Lösung sei seine Sicherung durch sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit:
„Und so sei es denn nun gesagt, dass es außer der Beseitigung der Geldgier und außer der Gerechtigkeit absolut keinen Ausweg gibt, weder einen breiten noch einen schmalen, um solcher Schwierigkeit zu entrinnen, und sie soll daher gleichsam als die Grundfeste unseres Staates dastehen.“45
Als größten materiellen Feind für den inneren Frieden sieht Platon nun allzu große Unterschiede im Besitz. Er argumentiert: Gut möglich, dass daraus Revolten von unten entstünden. Unvermeidlich aber und noch gefährlicher sei der daraus resultierende Hochmut/ Hybris46 bei den privilegierten Reichen und Mächtigen. Denn diese Überheblichkeit/ Hybris führe mit Sicherheit zum Verderbnis des Staates und des Gemeinwesens. Daher schlägt Platon übrigens pragmatisch vor, Grund und Boden – für ihn noch immer die Hauptquelle von Reichtum und sozialer Stellung – in Staatseigentum zu halten. Der Staat solle ihn dann jeweils generationsbezogen ausgleichend gerecht neu an die Familien vergeben. Insgesamt sei vor allem auf eine maßvolle Verteilung des Besitzes zu achten.47
Die Realität

Im richtigen Leben lief es allerdings anders: Das durch den langen Krieg und innere Auseinandersetzungen geschwächte Athen wurde ebenso wie ganz Griechenland vom Königreich Makedonien übernommen.48 Dessen quasi großgriechischer Thronfolger Alexander der Große (noch erzogen vom Platon-Schüler Aristoteles), ließ sich später gar als göttlich verehren. Ihm taten es dann später die römischen Kaiser nach.49
Damit galten die „normalen“ Gesetze für sie schonmal gar nicht. In Rom nutzten schon Caesar und seine Nachfolger systematisch die in der republikanischen Verfassung vorhandenen demokratischen Einrichtungen als Stufen zum göttlichen Kaiser: Im Wechsel verschafften sie sich republikanische Notfall-Befugnisse („Imperator“) und demokratisch begründete Ämter (Consul, Volkstribun), kombinierten sie miteinander und beseitigten ihre verfassungsmäßigen zeitlichen Begrenzungen.50
Und auch in den nachfolgenden zwei Jahrtausenden sind mit großer Macht ausgestattete Herrscher, die gemäß dem frühplatonischen Ideal selbstbescheiden nur dem Schönen-Guten-Edlen nachstreben, äußerst rar. Viele von ihnen sind hingegen durch Maßlosigkeit, Kriege und skrupellose Machtausweitung nach außen und innen in die Geschichte eingegangen.
Die Reform: Beschränkung der demokratischen Entscheidungen auf die Profis und „Kundigen“
Nach dem Tod des Perikles kam es im Verlauf des lang anhaltenden Peloponnesischen Krieges zu einer Verschärfung der innenpolitischen Frontstellungen in Athen.51 Diese mündete in einen bürgerkriegs-artigen Putsch der Oligarchen („Regime der 400“). Zumal da die Volksversammlung durch Kriegsabwesenheiten geschwächt war, kam es dann schließlich 411. v. Chr. im Gegenzug als Kompromiss zu einer Reform der demokratischen Regelungen, genannt die „Verfassung der 5000“.
Diese „Verfassung der 5000“ institutionalisierte und kanalisierte die politische Willensbildung, namentlich in Volksversammlung und Senat. Und sie grenzte die Anzahl der an den demokratischen Entscheidungen beteiligten Personen weiter ein. Vor allem gab es (so weit wir wissen) als Volksversammlung statt der Vollversammlung aller männlichen Vollbürger nun eine Delegiertenversammlung (eben mit 5000 Delegierten).
Zu den alten Volksversammlungen waren zwar auch bei weitem nicht alle Berechtigten gekommen. Aber eben deshalb mussten die politischen Akteure zuvor versuchen, überall für ihre Positionen zu mobilisieren, ähnlich wie bei heutigen Volksentscheiden. Um möglichst viele zum Kommen zu bewegen, musste prinzipiell jeder über die anstehenden Entscheidungen und ihre Wichtigkeit informiert werden, in welcher Form auch immer. Es gab also ein Interesse der politisch Aktiven an der Verbreitung und Diskussion von Informationen und Meinungen über die anstehenden Fragen. Nun aber, nach der Reform, beschränkte sich das Erfordernis der Information und der Überzeugung eher auf die festgelegten 5000 Delegierten. Von ihnen versprach man sich einen höheren Grad an politischer Kundigkeit. Diese neue Verfassung gab also den zentralen Anspruch des Perikles [siehe 3.1.] auf, dass jeder einzelne Staatsbürger, unabhängig von seiner privaten Betätigung, sich in politischen Dingen ein Urteil bilde und entscheidungsfähig sei.
Für den adligen Thukydides war diese neue Verfassung „ein vernünftiger Ausgleich zwischen den Wenigen [Adligen / Oligarchie] und den Vielen [allen (freien) Bürgern / Demokratie] und hat aus misslich gewordener Lage die Stadt zuerst wieder hochgebracht.“52 Unter „misslicher Lage“ versteht Thukydides dabei offenbar die zuvor zunehmenden politischen Konflikte und jenen daraus folgenden oligarchischen Putsch. Allerdings wurde diese neue Demokratie nach knapp 10 Jahren dann durch die Oligarchen mittels der „Tyrannis der 30“ bei Gelegenheit und in Folge des Krieges unter dem Schutz des siegreichen Spartas wieder beseitigt,53 bis sie durch einen erneuten Putsch modifiziert wieder in Kraft gesetzt wurde. Dabei wurden die demokratischen Einrichtungen weiter geschwächt. Die Entscheidungsprozesse waren zunehmend nur noch formaler Natur bis zum baldigen Ende des unabhängigen Athener Stadtstaates. Das erfolgte auch formell dann letztlich durch Anschluss an das makedonische Königreich.
Zur Kritik des Thukydides an demokratischen Entscheidungen
Beim Geschichtsschreiber Thukydides gibt es viele Stellen, an denen er das Zustandekommen von (schlechten) Entscheidungen in der Politik kritisiert.54 Wenn man diese Kritiken zusammenführt und sie zu Forderungen umformuliert, ergäbe sich in etwa:
1. Die verantwortlichen, in Macht befindlichen Politiker müssten der Versuchung widerstehen, sich wohlfeil als „Volkes Stimme“ zu gebärden und das Volk durch populistische Moves bei Laune und unmündig zu halten – etwa durch emotional anbiedernde Rhetorik, durch billige Gesten wie gelegentliche Preissenkungen, durch kurzatmige Symbolpolitik sowie durch Weckung und Befriedigung der Gier. Vielmehr müssten die Politiker mutig erklären, was sie warum für nachhaltig und richtig halten, und damit in die Überzeugung gehen. Mit einer solchen Haltung müssten sie sich ihre Meinungsführerschaft erarbeiten und erhalten.
2. Das Volk sollte sich nicht denkfaul kurzsichtig nach dem (vermeintlichen) eigenen Vorteil ausrichten und leichtgläubig dem folgen, der das Meiste und das Angenehmste verspricht – um ihn dann, wenn seine Versprechen sich als Spruchblase erweisen, zugunsten des nächsten Populisten zu verdammen. Vielmehr sollten die Bürger rational prüfen, welche Vorschläge und Strategien erfolgreich sein können und für alle zum Vorteil. Dann aber wären auch Misserfolge gemeinsam zu tragen, Fehler als gemeinsame zu erkennen und anzuerkennen, statt emotional bequem nach Schuldigen in Politik und Wahrsagerei zu suchen.
Kurz: Statt Populismus einerseits und Misstrauen andererseits sollte die von Perikles als Athener Lebensart beschworene rationale, demokratische Abwägung der Argumente55 zwischen beiden Polen bestimmen. Allerdings hielt Thukydides eine solche starke, aktive Demokratie angesichts der Schwäche der Menschen augenscheinlich eher für ein Ideal. Realistischer war ihm vermutlich jener 411 v. Chr. vorschnell gefeierte „Ausgleich“ zwischen Oligarchie und Demokratie – vielleicht, entgegen der späteren Einsicht des alten Platon, doch noch verbunden mit der Hoffnung auf die Wiederkehr einer übermenschlich klugen und edlen, perikleïsch verklärten Führungsfigur. Über die geschichtliche „Vollendung“ einer solchen autoritären Variante in Form der brutalen „Herrschaft der 30 Tyrannen“56 nur 10 Jahre später hat Thukydides nicht mehr geschrieben. Aber er hätte sie vermutlich so dann auch wieder nicht gewollt.
Die Utopie des Aristophanes

Der damals populärste Komödienschreiber Aristophanes war zugleich Kritiker und Radikalvertreter der Demokratie. Gnadenlos und schärfer noch als Thukydides prangerte er die Skrupellosigkeit der Politiker einerseits und die mäkelhafte Vordergründigkeit und Verführbarkeit des Volkes andererseits an (z.B. in Die Ritter)57, samt der Schwurbelei der Meinungsmacher in Verdrehung aller ethischen Prinzipien (etwa in Die Wolken)58. Aber besonders in seinen Komödien um den Krieg malte er immer wieder an die Wand, was denn wäre, wenn sich die Leidtragenden der herrschenden, aggressiv wachstumsorientierten Politik aktiv einmischten. Er setzte seine Hoffnung auf diejenigen, die in der damaligen demokratischen Willensbildung (noch) gar nicht vorkamen: die kleinen Bauern und – radikal utopistisch – gar die Frauen. In seiner bis heute die Gemüter erregenden Komödie Lysistrata59 schicken die Frauen die patriarchischen Politikmacher als Versager nach Hause; sie übernehmen den Diskurs und die Verantwortung und führen kompromisslos den Frieden herbei. Damit durchbrechen sie zugleich das ewige Gesetz, dass die Männer fern im Krieg Heldentaten und Kriegsverbrechen begehen, während die Frauen unsichtbar und schweigend zu Hause den Kriegs-Alltag bewältigen. Eine solch radikale Vorstellung von Demokratie, die die traditionell Nicht-Mächtigen in direkter Aktion mit einschließt, konnte damals nur als Utopie, in Form eines zum Schreien komischen Theaterstücks stattfinden.
Sparta als Gegenmodell?
Spartas Abgrenzung von der Athener Demokratie betonte seine traditional enge Bindung zur kosmischen Ordnung. Diese sei in Athen schon längst verloren gegangen. Sie sei individualistischem Egoismus, Regellosigkeit und Sittenverfall gewichen. Daher seien die gefassten Beschlüsse dort auch sprunghaft und nicht nachvollziehbar. Der Athener Perikles setzte dagegen: Weil in Sparta die Beschlüsse nicht demokratisch erörtert und gefasst würden, seien sie sprunghaft und auch für die eigenen Bürger nicht nachvollziehbar.60 Beide Aussagen standen allerdings in direktem Kontext des beginnenden Krieges, in dem der Feind bekanntlich prinzipiell Unrecht hat und irrational handelt.
Über die Gesellschaft von Sparta und seine Verfassung gibt es mehr Gerüchte als verlässliche Informationen, und die stammen aus interessierter zweiter und dritter Hand.61 Sicher scheint: In Sparta gab es wohl kaum formelle Wahlen bei der Besetzung von Ämtern durch eine Volksversammlung und keine Volksgerichtsbarkeit. Laut Aristoteles wurden immerhin die Mitglieder des Ältestenrats /Senats angeblich per Zurufen nach Maßstab der Lautstärke (eine Art Applausmessung durch Schiedsrichter also) von den versammelten Bürgern bestimmt.62 Andererseits gab es sogar jeweils zwei „Könige“, deren Stand vererbt wurde. Die Bezeichnung „König“ (Βασιλεύς /Basileús ) entstammt jedoch eher dem Athener Narrativ.63 Ihrer Funktion nach waren die spartanischen „Könige“ eher hohe Staatsbeamte, die durchaus der Kontrolle durch staatliche Einrichtungen unterlagen. Sie hatten zunächst einmal rituelle Aufgaben, und sie waren automatisch Heerführer im Krieg. Aber sie mussten sich gegenüber unanfechtbaren Aufsichtsbeamten, so genannten Ephoren (ἔφοροι) rechtfertigen. Diese wurden jeweils als 5er-Kollegium für ein Jahr bestimmt, vermutlich irgendwie ebenfalls von der Versammlung der Bürger. Während ihrer Amtszeit waren sie durch nichts und niemanden absetzbar oder austauschbar. Sie überwachten die Einhaltung der Verfassungsgrundsätze, auch seitens der „Könige“, und konnten sie bei Zuwiderhandlung auch bestrafen. Laut Platon hatten diese Aufsichtsbeamten/Ephoren geradezu „tyrannische“ Macht im für ihn positiven Sinne, nämlich für die Bewahrung der Verfassungsgrundsätze.64
Auch gegenüber dem per Akklamation gewählten Ältestenrat und bei Bürgerversammlungen mussten sich die „Könige“ rechtfertigen und dort für ihre Politik Mehrheiten bekommen. Dabei setzte sich oft einer von beiden als faktischer Meinungsführer und Staatschef durch, wie bei den Strategen in Athen. In Sparta konnten „Könige“ auch bei der Frage von Krieg und Frieden durchaus überstimmt werden.65
„Könige“ unter Kontrolle
„Könige“ konnten – z.B. wegen Bestechlichkeit – auch von der Ratsversammlung verurteilt und aus dem Land verbannt werden. Und der „König“ Archidamos wurde von den Ephoren sogar bestraft, weil er entgegen ihrer Anweisung die falsche Frau heiratete.66 Die Ephoren hatten nämlich nicht nur über die Verfassung, sondern auch über die moralisch und medizinisch einwandfreie Entwicklung der Königsgeschlechter zu wachen. Außerdem leiteten sie, und nicht die Könige, die Sitzungen der Entscheidungsgremien.
Für heutige Autokraten aller Art ist das Idol eines militärisch straff geführten, diskussionsfreien Sparta mit einem mächtigen König an der Spitze denkbar ungeeignet. Mit absoluter Macht kontrollierende, nicht absetzbare Ephoren-Beamte einerseits und unabhängig abstimmende Gremien andererseits: Das alles ist für Staatsoberhäupter, die nach absoluter Größe streben, ein totaler Alptraum. Vielmehr verkörpern die über die Unverletzlichkeit der Gesetze wachenden Ephoren zusammen mit den ihnen untergeordneten „Königen“ eher die Vision des altersweisen Platon von der Herrschaft der Gesetze über alle.
„Wer andere unterdrückt, kann selbst nicht frei sein“
Der in Athen interessiert verbreitete Ruf Spartas als „Militärgesellschaft“67 hat eher einen wirtschaftlichen Hintergrund. Spartas Reichtum beruhte wesentlich nicht auf ausgedehntem Handel, sondern auf der Unterdrückung von einer Art Staats-Sklaven (Heloten).68 Diese mussten in Schach gehalten werden. Ein Mittel dazu war eine jedes Jahr wiederholte formelle Kriegserklärung an sie – so jedenfalls die (nicht ganz zuverlässige) Überlieferung. Dabei wurden regelmäßig, nur so zur Abschreckung vor Aufständen, einige Heloten getötet. Dennoch gab es in der Geschichte Spartas mehrere Heloten-Aufstände. Dem entsprechend lebten die herrschenden Spartaner nicht etwa in Saus und Braus, sondern ihr Leben war ein permanenter, absolut spaßbefreiter Alarmzustand, in ständigen Wehrübungen und Abhärtungsritualen, um ihre Herrschaft im eigenen Land und ihrem Einfluss-Bereich abzusichern. Vielleicht aber ist auch dieses Bild von Sparta aus athenischen Quellen allzu propagandistisch-interessiert. Und vielleicht enthielt ihre religiöse und Festtagskultur sogar noch ungeklärte matriarchalische Elemente.
Zu den Ursachen des Niedergangs
Die Ursachen des Niedergangs der Athener Demokratie sind vielfältig und im vorangehenden Text im wesentlichen beschrieben: mangelhafte Überwindung der alten, oligarchisch ausgerichteten Ämter- und Machtstrukturen; Expansionismus und Krieg, dadurch wirtschaftliche Entwurzelung und soziale Destabilisierung; zunehmende wirtschaftlich-soziale Ungleichheit; mangelnde bzw. gar keine politische Beteiligung in den „unteren“ Schichten einerseits, Populismus in Wort und Tat statt nachhaltiger Überzeugung oder gar tätige Gemeinwohl-Orientierung andererseits. Im folgenden dazu nur noch einige ergänzende Hervorhebungen.
„Fremdstämmige“, Nichtbeteiligte und Verlierer
Beide Großmächte, Athen und Sparta, waren innerhalb ihrer Staatsgebiete von „Periöken“ bzw. „Metöken“ (übersetzt: Bei- bzw. Mitbewohnern) umgeben. Als „Fremdstämmige“, sozusagen als „Einwohner mit Migrationshintergrund“, hatten diese etwa so viele Rechte wie Frauen im extremistischen Islamismus (oder im Europa des 17. Jahrhunderts). Aber oberhalb der passiven Masse der Sklaven bildeten sie als abhängige und tributpflichtige/steuerpflichtige Bauern, Handwerker und Händler die wirtschaftliche Basis in beiden Staaten. In Sparta war es den Vollbürgern sogar offiziell verboten, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Da die Periöken bzw. Metöken jedoch in den politischen Einrichtungen beider Staaten keinerlei Einfluss hatten,69 waren ihnen die politischen Diskurse und das Schicksal der demokratischen Einrichtungen vermutlich prinzipiell egal. Als Nicht-Staatsbürger waren sie von vornherein auf ihre individuellen Interessen beschränkt. Die Einsicht des späten Platon von der staatserhaltend notwendigen demokratischen Einbindung der Bevölkerung fand hier radikal keine Anwendung.
Aber auch die anderen Gruppen aus der Mehrheit der Nichtbeteiligten [siehe oben, 2.3.] dürften dem Schicksal des demokratischen Gemeinwesens passiv und eher gleichgültig gegenüber gestanden haben. Ganz sicher war das bei den Sklaven der Fall. Sie liefen bei Gelegenheit zu Tausenden ganz „unpatriotisch“ zum Feind über, wenn sie sich dort ein besseres Los erhofften.70 Aber immerhin tat es ihnen bekanntlich sogar der Staatsführer aus bester Athener Familie Alkibiades gleich, der während des Kriegseinsatzes die Seiten wechselte. Auch für ihn war die von Perikles beschworene Einbindung des einzelnen in das Gemeinwesen offenbar schon erodiert.71
Soziale, wirtschaftliche und politische Erosion
Zu den formell nicht Beteiligten kamen zahlreiche kleine Bauern und durch den Krieg wirtschaftlich Entwurzelte, die im täglichen Überlebenskampf die Stadt bevölkerten. Namentlich die kleinen Bauern waren zumeist die Verlierer der expansionistischen Athener Handelspolitik. Deren günstige Importe von den „Bündnispartnern“ konkurrierten ohnehin mit ihren Produkten. Im Krieg wurden dann die Felder der Bauern vor der Stadt regelmäßig systematisch verwüstet, die Ernten vernichtet und durch weitere Importe ersetzt.72 So hatten sie, ebenso wie die Soldaten und Söldner im Auslandseinsatz, noch weniger Grund, den weiten Weg zu den Versammlungen überhaupt auf sich zu nehmen. Wirtschaftlich ohne Perspektive, sozial ohne „Ansehen“ und Einfluss, waren wohl auch sie kaum zu den Followern oder gar Verfechtern einer aktiven Demokratie zu zählen.
Auf der anderen Seite machte beispielsweise ein Populist wie Kleon aus seiner bloß taktischen, verächtlichen Haltung gegenüber demokratischen Beschlüssen kein Hehl, sofern sie seiner persönlichen Beliebtheit hinderlich waren. Mit seiner Distanz gegenüber demokratischen Entscheidungen stand er nicht allein. Bei aller Rhetorik im Sinne des „kleinen Mannes“ konnte Kleon auf ein stillschweigendes Wohlwollen in Kreisen der oligarchisch Mächtigen bauen, wie sie oben in der Kritik des Thukydides an demokratischen Entscheidungen formuliert wurde.73 Statt auf rationale Überzeugung setzte Kleon dann aber ganz offen auf eine hemdsärmelige Haltung als rücksichtsloser „Macher“ sowie als verständnisvoller Stellvertreter des „kleinen Mannes“ gegen die alteingesessenen mächtigen Familien. Seine Resonanz bei den Ärmeren beruhte nicht zuletzt gerade auf deren sozialer und wirtschaftlicher Entwurzelung; sie zielte insbesondere auf die Verlierer von Expansionismus und Krieg.74 Und auch sein „Nachfolger“ Alkibiades hielt, wie gezeigt, von nachhaltiger, faktenbasierter Entscheidungsfindung nicht so viel wie von Demagogie und seinem eigenen Ego.75
Schluss
Die Athener Demokratie wurde mit und nach dem Peloponnesischen Krieg zunehmend eingeschränkter und formaler, mit absehbaren, alternativlosen Beschlussfassungen, bis sie zusammen mit der Selbstständigkeit des Athener Stadtstaates gänzlich verschwand.
Im nachhinein betrachtet, scheinen ausgerechnet die Forderungen des altersweise gewordenen Demokratie-Skeptikers Platon – nach der Herrschaft der Gesetze über die Herrscher, nach gerechtem Ausgleich statt „Gier“ – mindestens ebenso zielführend für den Bestand einer Demokratie zu sein wie das vom Staatsführer Perikles beschworene und von Thukydides indirekt geforderte Ideal der gründlichen Erörterung und Meinungsbildung aller Bürger vor jeder Beschlussfassung – einschließlich der aktiven Einbeziehung aller Bürger im Sinne des Aristophanes in die staatlichen Belange in Freiheit und Gleichheit.
Der Stadtstaat Athen war für die Beteiligten vergleichsweise übersichtlich. Er hinterlässt uns eine Reihe von Erfahrungen und Maßgaben. Er beweist insgesamt die Möglichkeit und historisch die Überlegenheit der Demokratie. Und er lässt uns die vielen immanenten Möglichkeiten ihrer Gefährdung, Aushöhlung oder gar Zerstörung erkennen. Die Anstrengung zur Realisierung der Demokratie in ihrer aktiven Betätigung aber ist – nach aller geschichtlichen Erfahrung mit „Gegenmodellen“ oligarchischer, populistischer und elitär-„tyrannischer“ Provenienz – auch in heutigen, komplexeren Verhältnissen alternativlos.
Anmerkungen und Verweise
Zu Entstehung und Kontext des Artikels
Zur Entstehung des vorliegenden Artikels: Der Text ist ursprünglich im wesentlichen eine Ausgliederung aus dem Cosmiq-Beitrag „Kriegsursachen und Kriegsverlauf – Peloponnesischer Krieg als Modell“. Der enthält als Anhang eine Skizze der athenischen und spartanischen Gesellschaftsverfassungen. Sie sollten dazu dienen, die Handlungen der beiden Kriegsparteien besser verständlich zu machen. Dieser Anhang ist hier dem Thema entsprechend überarbeitet und erweitert worden. Grund dafür ist die aktuell allenthalben zu beobachtende Tendenz zu autokratischen Herrschaftsformen, verbunden mit einer oft populistischen Infragestellung demokratischer Grundsätze. Bei dieser Diskussion kann die Besinnung auf die „Ur-Demokratie“ Athens, sozusagen auf den Prototyp der Demokratie, mit ihren Stärken und Schwächen sowie den schon damals geführten Diskussionen um sie vielleicht nützlich sein. [Danke an M.R. für den indirekten Anstoß.]
Zu den Verweisen auf den „Ursprungstext“: Der vorliegende Text ist auf die aktuellen Fragestellungen zugespitzt. Er erhebt keinerlei Anspruch darauf, die damaligen Gesellschaften umfassend oder gar in ihrer geschichtlichen Entwicklung darzustellen. Um Wiederholungen zu vermeiden, enthält der Text in den Anmerkungen zahlreiche Bezüge zum „ursprünglichen“ Cosmiq-Beitrag „Kriegsursachen…“, wo Teilthemen und Zusammenhänge ausführlicher dargestellt sind. Dort befinden sich auch detailliertere Angaben zu den benutzten Quellen. Das daraus vielleicht resultierende Hin- und Hergespringe zwischen den beiden Texten und deren Anmerkungen scheint mir das kleinere Übel gegenüber einer Aufblähung von Text und Anmerkungsapparat durch allzu viele kontextuelle Ausführungen und Wiederholungen.
Nachträgliche Entschuldigung: So nach und nach ist aus der ursprünglichen Auskoppelung dann doch durch Erweiterungen ein neuer Text entstanden. Dazu wurden auch ursprüngliche Inhalte jenseits des Ausgegliederten neu eingefügt. Deshalb ließ sich jenes strenge Prinzip der Verweise auf den „Ursprungstext“ nicht mehr ganz durchhalten, so dass es streckenweise zu unschönen Doppelungen zwischen den Beiträgen kommt. Wenn man beide Texte liest – was wir uns natürlich wünschen, weil es um unterschiedliche thematische Kontexte und auch Inhalte geht -, bitten wir über derlei Wiederholungen großzügig hinwegzusehen.
Anmerkungen
- Oligarchie: Begriffsdefinition im Cosmiq-Artikel „Kriegsursachen….“ im Anhang 6.1.8.
- ausführlich und mit Quellangaben bei Thukydides in Cosmiq, „Kriegsursachen…, 2.2.“
- zu den Perserkriegen ausführlich in Cosmiq, „Kriegsursachen…“, Anm. 3
- Zur Freilassung der Sklaven, auch zur Schuldsklaverei siehe den Cosmiq-Artikel „Kriegsursachen…“, Anm. 52. Im Zuge der Freilassung kam es auch zu einer Schuldenstreichungs-Aktion für beim Landadel verschuldete Kleinbauern. Zur durchaus unterschiedlichen Situation der Sklaven siehe auch „Kriegsursachen…“, Anm. 18.
- Zur Hoch-Zeit des Silberbergbaus in Laureion / Attika arbeiteten dort ca. 80 bis 100.000 Sklaven, die meist von privaten Sklavenverleihern an die Minenbetreiber verliehen wurden. Einer der großen Nutznießer war übrigens der Staatsmann Nikias mit einem recht modern anmutenden Pacht- und Lizenz-System. Ausführlicheres zur Geschichte der Akropolis und ihrer Finanzierung bei Kavalierstour.de. Dem damaligen faktischen Staatsführer Perikles gelang es, Volksversammlung und Senat davon zu überzeugen, dass sein Ausbau der Akropolis in den 440ern v. Chr. den Steuerzahler überhaupt nicht belasten werde. Er könne vollständig aus den Abgaben der Verbündeten und Zolleinnahmen finanziert werden. Das Vorhaben führte dann auch privat zu erheblichen Verdienstmöglichkeiten, namentlich für zahlreiche Künstler, Handwerksbetriebe, Marmorlieferanten, Minenbetreiber, Sklavenhändler und -verleiher. Durch den Beginn des Peloponnesischen Kriegs (431 v.Chr.) kamen die Bauten dann vorzeitig zu einem vorläufigen Ende. Ein auslösender Faktor für den Krieg waren ironischerweise nicht zuletzt Finanzierungsprobleme beim Akropolisbau [siehe unten, Abschn. 3.3.2, „Vertrauen ist gut..“ sowie in „Kriegsursachen …“ den Abschnitt 2.5.2. zu den Gründen des Perikles sowie Anm. 28 zum Bauskandal].
- Das Verständnis des Einzelnen als Teil der Gemeinschaft findet sich exemplarisch etwa in den Reden des Perikles und natürlich auch in den Schriften eines Platon, selbst noch in der Rechtfertigung des Alkibiades über seinen luxuriösen Lebensstil (dieser diene dem Ruhm Athens) [Thuk. VI]. Es findet seinen Ausdruck aber auch in der Entscheidung des Sokrates, die Todesstrafe der Verbannung vorzuziehen.
Anmerkung zur Zitierweise für Thukydides, Der Peloponnesische Krieg: Angesichts zahlreicher unterschiedlicher Textauswahlen haben wir bei Verweisen auf Thukydides und Zitaten auf die Angabe von Seitenzahlen verzichtet und nur die Abschnitte („Bücher“ mit römischer Zählung) benannt, z.B. „Thuk. I“ für „Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Buch I“] - [siehe unten im Text, Abschn. 3.3.2.] Die Dichotomie zwischen dem ideologisch hohen Stellenwert des Gemeinwesens für das Individuum und einem sehr lebendigen und praktischen Misstrauen gegen politische Machtträger findet sich ausführlich bei Jürgen Malitz, Misthos. Die Besoldung des Bürgers in der athenischen Demokratie, 1991 als eine seiner Grundthesen.
- Die Regelung ist auch ein Indiz für das Einkommensgefälle, wo ein Triearch (τριήραρχος /(triéarchos) u.a. locker den Fulltime-Sold für alle seine (freien!) Ruderer tragen konnte. Aufgrund gestiegener Kosten im Peloponnesischen Krieg teilten sich ab 410 v. Chr. zwei oder später mehrere Triearchen die Ehre und Kostenübernahme für ein Schiff. Ab 340 v. wurde der infrage kommende Personenkreis dann auch formell auf 300 eingegrenzt. Das beschränkte den Kreis der Kandidaten vermutlich auf die traditionell reichen Familien und schloss neureiche Emporkömmlinge aus.[Diese Infos und weitere Einzelheiten über die Trierarchie (τριηραρχία) bei Wikipedia.]
- Zur Besoldung der Ämter siehe unten, Abschn. 3.4., mit Quellenangabe in Anm. 39.
- Der Peloponnesische Krieg wird datiert von 431 v. bis 404 v. Chr. Auch er hatte Vorläufer-Konflikte.
- So setzte Perikles wesentlich den Übergang der Gerichtsbarkeit vom adligen Areopag auf Volksgerichtshöfe durch, in die jeder Stadtbürger gelost werden konnte. Später folgte, auch für deren Richter, die Besoldung für die Wahrnehmung von Ämtern, so dass auch weniger Begüterte z.B. mit richten konnten.[siehe Abschn. 3.4.]. Zu den möglichen Motiven für diese Reformen siehe auch im folgenden den Abschnitt 2.5., Interessenkoalitionen.
- Als die Kosten für den Akropolis-Ausbau aus dem Ruder liefen, drohte Perikles in einen „Bauskandal“ darum verwickelt zu werden; siehe unten, Abschn. 3.3.2, „Vertrauen ist gut..“ mit Anm. 33.
- zur Seuche ausführlich in Cosmiq, „Kriegsursachen…“, Abschn. 3.2. und Anm. 33
- Als typischer Populist profilierte sich Kleon in seinem Aufstieg als „harter Hund“ und „Kritiker“ der demokratischen Entscheidungen – jedenfalls wenn die Volksversammlung mal nicht so dachte wie er: „Ich persönlich hatte schon oft genug Gelegenheit zu bemerken, dass eine Demokratie nicht in der Lage ist, andere zu regieren, und ich bin davon umso mehr überzeugt, wenn ich sehe, wie ihr jetzt eure Meinung ändert.“ [Rede in der Volksversammlung 427 v. Chr., Thuk. III] Der Hintergrund: Nachdem der „Abfall“ der Insel Mytilini (Lesbos) aus dem Bündnis niedergeschlagen worden war, rückte die Volksversammlung doch tatsächlich von tödlichen Racheplänen gegen die gesamte Bevölkerung von Mytilini ab. Sie hielt nur noch den dort regierenden Adel für schuldig und zu bestrafen. Das war für Kleon ein Zeichen von verachtenswerter „Weichheit“.
Kleon war angeblich der erste, der auf der Rednertribüne schrie und schimpfte und mit einer „unkontrollierten Impulsivität … das Volk mehr als sonst jemand verdorben hat“. Thukydides beschrieb ihn als Demagogen und vulgär.[Zitat und Beschreibung entnommen aus wikiwand, Kleon] - Der beträchtliche Reichtum der Nikias-Familie beruhte auf Silberminen in Laureion / Attika, die Nikias äußerst gewinnbringend samt Material und Sklaven an seinen Freigelassenen „verpachtet“ hatte. Obwohl Nikias zunächst eher gegen den Sizilien-Feldzug gewesen war, kam er dort ca. 413 v.Chr. als einer seiner Strategen in Kriegsgefangenschaft auf ungeklärte Weise ums Leben, vermutlich durch Folter, Hinrichtung oder bei der Sklavenarbeit. Eine vermutete diplomatische Intervention Spartas konnte das nicht verhindern.
- Alkibiades wurde 420 v.Chr., also bereits 2 Jahre nach dem Tod von Kleon, erstmals zum Strategen gewählt. Zum Sizilien-Feldzug (ab 415 v.) ausführlich in Cosmiq, „Kriegsursachen…“ 3.3.2. „Spezialoperation Sizilien“ sowie 2.4. „Vorangehende Konflikte“
- Alkibiades soll kurz vor seiner Abreise nach Sizilien, nach einer seiner legendären Partys, nachts im Suff mit Kumpanen Götterstatuen beschädigt haben. Eine Art „Partygate“ sozusagen. Dadurch sah man humorlos die moralischen Grundlagen des Staates gefährdet. Außerdem war schließlich nicht ganz auszuschließen, dass sich die Götter, derart beleidigt, an der Stadt rächen würden.
- ausführlich in Cosmiq, „Kriegsursachen…“ 3.3.2. „Spezialoperation Sizilien“. Nach kurzem politischem Wiederauftritt in Athen fiel Alkibiades schließlich 404 v.Chr. in Verbannung in Phrygien einem Anschlag zum Opfer. Dieser mit einer Brandstiftung inszenierte Mordanschlag war wohl entweder politisch motiviert, nämlich im Zuge der Beseitigung potenzieller Rivalen in den blutigen Säuberungen durch die „30 Tyrannen“ in Athen [siehe unten, 3.10. und die Verweise in Anm. 52], oder aber „privat“ durch Familienrache aufgrund einer seiner unzähligen Eskapaden mit vorzugsweise verheirateten Frauen der besseren Gesellschaft. Wenn man so will, hatte selbst die Spekulation über Alkibiades‘ Ende noch fast etwas Symbolisches für sein Leben und verwies nicht ohne Ironie auf die zwei zusammenhängenden Seiten des Atheners als Staatsbürger und Privatmensch.
- Zur Situation der Sklaven ausführlicher in Cosmiq, „Kriegsursachen…“, Anm. 18
- ein krasses Beispiel für Populismus und Wahlgeschenke in Cosmiq, „Kriegsursachen…“, 3.1.2.
- Die Handelsbürger begleiteten z.B. den sizilischen Feldzug mit eigenen privaten Schiffen und eigenem Söldnerpersonal, weil sie sich davon unmittelbar Mengen von Waren versprachen. Siehe Thuk. VI. und VII.
- Mit den „verschiedenen Tätigkeiten“ dürften vor allem, aber nicht nur, die verschiedenen Berufe und andere Formen des Gelderwerbs gemeint sein, logisch systematisch jedenfalls private Tätigkeiten im eigenen Haus und dessen „Ökonomie“ [οἶκος /oikos = „Haus“ + νόμος /nomos = „Gesetz“] im Gegensatz zu den nachfolgenden „staatlichen Dingen“.
- Perikles, Rede für die Gefallenen, Thuk II, 40, Übersetzung Georg Peter Landmann 3./2010
- Die Argumentation, dass Abwägen und Abstimmen die Entscheidungen tragfähiger in der Durchführung mache, führt Perikles aus in seiner Rede für den Krieg [Thuk I]. Dass mit „gefährlich“ vor allem der Krieg gemeint sei, ergibt sich aus dem Thema und dem Kontext der Rede. Diese aktive und anhaltende Einbindung des Volkes (bzw. der wehrfähigen Männer) in den Krieg mittels demokratischer Meinungs- und Willensbildung ist in etwa das Gegenteil zu der Haltung einer absolutistischen Königsherrschaft mit adligen Ministern, die nach der Schlacht von Jena und Auerstedt (1806 n.Chr.) per Flugblatt verlauten ließ: „Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht!“ Zu übersetzen als: „Der Krieg geht euch nichts an, auch wenn ihr die Leidtragenden seid und sein werdet. Gleiches gilt für das Schicksal meines Reiches.“ Die verheerende Niederlage in dieser Schlacht gilt im nachhinein als Beginn des Untergangs des preußischen Reiches.
- Rede für die Gefallenen, Thuk II, 37, Übers. Georg Peter Landmann 3./2010. Mit dem Begriff „Volksherrschaft“ statt „Demokratie“ will der Übersetzer vermutlich den damals neuen Begriff und den Unterschied zu unserer heutigen landläufigen Auffassung von „Demokratie“ hervorheben. Im Original aber heißt es Demokratie/ demokratia: „καὶ ὄνομα μὲν διὰ τό μὴ ἐς όλίγους ἀλλ ἐς πλείονας οἰκεῖν δημοκρατἰα κέκληται“
- Aristophanes, Die Wolken
- zu Sokrates ausführlicher in Cosmiq, „Kriegsursachen…“, Anm. 55. Sokrates wurde 399 v.Chr., also nach Putsch und Gegenputsch der „Tyrannis der 30“ [siehe unten, 3.6] zum Tode verurteilt.
- Einen Einstieg zur Rolle der Sophistik in Athen bietet der Eintrag in gottwein.de, einen umfassenderen Einblick bietet der Artikel von Lars Lethen, „Sophistische Elemente …“ in academia. edu. Eine eingehende Darstellung anhand einzelner Vertreter der „Sophistik“ findet sich bei Helmut Heit, Frühgriechische Philosophie, Reclam 2011
- Gegen den Philosophen Anaxagoras und den „Sophisten“ Protagoras, beide Berater und Freunde des Staatsmanns Perikles, gab es einige Jahrzehnte vor dem Peloponnesischen Krieg Anklagen wegen Gottlosigkeit (ἀσέβεια /asébeia). Ausführlich in: Helmut Heit, Frühgriechische Philosophie, Reclam 2011, S. 47ff
- Siehe oben, Abschnitt 3.1, „Das Ideal“, im Kontext dargestellt in Anm. 19 in Cosmiq, „Kriegsursachen…“, 2.3.
- Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Buch I. Die Zitate von Thukydides sind in verschiedenen Textauswahlen unter dem später hinzugefügten Titel Der Peloponnesische Krieg veröffentlicht. Sie folgen den neueren Übersetzungen. Dabei wurde auf die Angabe von Seitenzahlen verzichtet und nur die Abschnitte („Bücher“ mit römischer Zählung) benannt, z.B. „Thuk. I“ für „Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Buch I“.
- Thuk. II
- Ausführlich in der Anm. 28 in „Kriegsursachen…“, wie folgt: Jener politische Bau-Skandal in Athen drehte sich um die monumentalen, staatlichen Tempelbauten auf der Akropolis. [siehe oben, wirtschaftlicher Hintergrund] Dieses Projekt betrieb Perikles federführend. Der Bau wurde teurer als geplant [so etwas soll ja mitunter bei staatlichen Großbauprojekten vorkommen ;-)]. Perikles‘ leitender Baumeister Phidias war schon wegen Unterschlagung (wohl von Gold für die Statuen) verdächtigt und angeklagt worden. Schließlich kam er wegen frevelhaften Hochmuts („Hybris“) in Haft (Er soll sich und seinen Amigo Perikles in einem Tempel-Bild zwischen den Göttern verewigt haben). … Aristophanes drückt das so aus: „Die Quelle des Unheils [des Kriegsbeginns] war der Skandal um Phidias [den Baumeister, wegen Unterschlagung] / daraufhin steckte Perikles, weil er fürchtete, ihn träfe das gleiche Unheil /weil er sich vor eurem [des Volkes] Zorn fürchtete, eurem bissigen Charakter / nur um sich abzusichern, unsere Stadt in Brand / warf hinein den kleinen Funken, das megarische Edikt“ (also den Erlass des Embargos gegen Megara als Zündfunke für den Flächenbrand des Krieges). [Zitat aus Aristophanes, Der Friede, 421 v. Chr. aufgeführt.]. Für den Adligen Thukydides ist diese Episode auch ein Lehrstück, wie ein allzu missgünstiges Volk politische Führer in die Ecke drängen könne. Das und die Furcht der Politiker vor den Wählern hätten daher indirekt so etwas wie eine Mitschuld am Kriegsbeginn. Heute würde man wahrscheinlich von schlechter Kommunikation der Regierung sprechen.[so weit der Text aus Cosmiq, Kriegsursachen.., Anm. 28.]. Siehe auch im Artikel „Kriegsursachen …“ den Abschnitt 2.5.2. zu den Gründen des Perikles.]
- [dargestellt in Thuk. VI], zur Bio von Alkibiades siehe oben, Anm. 18, sowie zur Anklage Anm. 17
- Heute wissen wir aus der Systemtheorie (z.B. Maturana, Bateson und Luhmann) allgemeiner, dass nicht nur Personen, sondern auch (mächtige) Systeme aller Art zu ihrer Selbstvervollkommnung, Stärkung und Ausdehnung tendieren, etwa in Art der Autopoiesis.
- Papier war als „Wahlzettel“ viel zu teuer. Aber auch das „Scherbengericht“ ließ sich natürlich, bei mangelnder Wachsamkeit, durch demagogische Meinungsmache gegen politische Gegner missbrauchen. Im Athener Museum kann man sogar Beweise für eine damalige „Wahlfälschung“ besichtigen (viele gleiche Namen in gleicher Handschrift).
- Einzelheiten mit Fotos über den Versammlungsplatz (Pnyx) bei Wikipedia.
- zum Ende der allgemeinen Volksversammlungen s.u., Abschn. 3.6., Die Reform…
- Die Besoldung der Abgeordneten war abgeleitet aus einem Sold für die (prinzipiell freien) Ruderer auf den Kriegsschiffen, die oft länger von zu Hause fernblieben. Die Besoldung von Sitz und Amt realisierte also ein stückweit das schon Jahre zuvor von Perikles proklamierte Ideal, dass Ansehen und Amt „nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit, sondern nach seinem Verdienst“ [so Perikles oben in 3.1.] vergeben werde. Allerdings blieb die Staffelung der Zugänglichkeit wichtigerer Ämter nach Klassen weiter bestehen. Eine ausführliche Darstellung des Themas Besoldung in Jürgen Malitz, Misthos. Die Besoldung des Bürgers in der athenischen Demokratie, 1991. Dort gibt es auch Berechnungen über notwendige Unterhaltskosten, u.a. anhand von Ruderern, die ja von den Triarchen verköstigt wurden [siehe oben, 2.2., Soziale Staffelung…], und Sklaven.
- Platon, Der Staat / Politeia /Πολιτεία. Den sozialen Ständen seines Idealstaates als Abbild der kosmischen Ordnung ordnete Platon jeweils eine von vier Haupttugenden zu, die er vorfand und modifizierte und die für ihn „Seelenteile“ waren: dem obersten, herrschenden Stand die Weisheit (σοφία/ sophia), dem zweitrangigen die Tapferkeit (ἀνδρεῖα/ andreia) und dem niederen Stand die Verständigkeit (σωφροσύνη/ sophrosýne) und die Mäßigkeit. Die Gerechtigkeit (δῐκαιοσῠ́νη/ dikayosyne) sollte als Bindeglied zwischen den Ständen dienen. Diese von Platon modifizierten Tugenden wurden dann im Mittelalter in der kirchlichen Lehre als Kardinaltugenden wiederum angepasst übernommen.
- Die Positionsänderung Platons von der Politeia/ Πολιτεία zu den Nomoi/ Νόμοι ist ausgeführt bei Ernst von Aster, Geschichte der Philosophie, Stuttgart (Kröner) 1963, SS 71ff, 76.
Im Mittelalter fand die Überlieferung der Antike und ihrer Schriften fast ausschließlich durch Einrichtungen der katholischen Kirche statt. Platons Idealismus mit seiner herrschenden regulativen Idee; Platons „früher“ Ansatz der Πολιτεία/ Politeia mit einem ständehierarchischen Staat mit zugeordneten Kardinaltugenden als Abbild einer kosmischen Ordnung: Das alles kam den Vorstellungen eines päpstlich bestimmten Glaubenssystems und Staates sehr nahe. Eigentlich musste man doch gleichsam die „regulative Idee“ nur noch durch „Gottes Willen“ ersetzen. Daher wurde diese Version eines „Platon“ in den Klöstern des Mittelalters bevorzugt weiterverbreitet. Dort fand der „späte“ Platon der Nomoi/ Νόμοι weitaus weniger Beachtung. Diese spezifizierte Überlieferung wirkt bis in die Gegenwart nach. - Platon, Die Gesetze/ Νόμοι/Nomoi, Buch IV. (Ergänzungen zwecks Verständnis in […] vom Verfasser)
- Platon, Die Gesetze/ Νόμοι/Nomoi, Buch IV
- Für Platon findet eine Scheidung von Gut und Böse grundsätzlich nicht zwischen Staaten statt, sondern bei einzelnen Menschen, oft sogar auch innerhalb von Individuen selbst. Mittel und Kriterium dafür ist die Vernunft, nach der sich jeder Mensch und auch ein Staat ausrichten solle. Schon deshalb ist eine primäre Unterscheidung oder Orientierung anhand von Zugehörigkeit, etwa zu Staaten oder auch zu Kriegsparteien, abwegig.
- Platon, Die Gesetze/ Νόμοι/Nomoi, Buch V.
- Verweis zur Hybris in „Kriegsursachen…“, Anm. 31, sowie ausgeführt im Cosmiq-Artikel über VW, Phaeton und den Klimawandel
- Platon, Die Gesetze/ Νόμοι/Nomoi, Buch V.
- Zur Schwächung durch den Krieg siehe in „Kriegsursachen…“ den Abschnitt 4 über das Ende des Krieges. Der Anschluss griechischer Staaten und Bündnisse an Makedonien erfolgte nach vorangegangenen Vorstößen sukzessive in Kriegen ab 379 v.Chr.; 338 v.Chr. wurde dann Athen selbst auch formell vereinnahmt.
- zur göttlichen Verehrung der Kaiser ausführlich in Cosmiq, „Kriegsursachen…“, Anm. 60
- Die andere Seite der Machtanhäufung: Die durchaus populistische Macht der Kaiser konnte sich, ebenso wie in Athen, auf eine (ursprünglich oft bäuerliche) Anhängerschaft gründen, die in Konkurrenz zu sklavenbetriebenen Großländereien sowie im Zuge von Kriegen und Lebensmittel-Importen ihre Einkommensbasis verloren hatten. Als „proletarii“ (= die nichts mehr als ihre Kinder hatten) bevölkerten sie, sozial entwurzelt, die Stadt. Schon zur Zeit der Republik verkauften sie ihr Wahlrecht nicht selten an die reichen Patrizier. Ohne autonome Einkommensquelle wurden sie von der Protektion und den Zuwendungen der Mächtigen und Reichen, etwa auch als Söldner und Veteranen, abhängig.
- ausführlich in Cosmiq, „Kriegsursachen…“ 3.4.1 mit den Anmerkungen 41 und Anm. 35
- Zitat in Thuk. II
- Der erneute Putsch aber geschah nach Abschluss des Berichts von Thukydides. Zu den Einzelheiten der „Tyrannis der 30“ siehe in „Kriegsursachen…“ den Abschnitt Kriegsfolgen, detaillierter in Anm. 49.
- fortlaufend dargestellt im Artikel „Kriegsursachen…“
- siehe oben, Abschnitt 3.2.3, Erkenntnis durch Diskurs, im Kontext dargestellt in Cosmiq, „Kriegsursachen…“, 2.3.
- zur Episode der „Herrschaft der 30 Tyrannen“ siehe Cosmiq, „Kriegsursachen…“, Abschnitt 4.3. sowie Anm. 49
- Aristophanes, Die Ritter
- Aristophanes, Die Wolken
- siehe den Cosmiq-Beitrag über Aristophanes‘ Komödie „Lysistrata“
- Im einzelnen und im Kontext gegenübergestellt in „Kriegsursachen…“, Abschn. 2.5.2. Ideologie und Narrative…“ Zur Argumentation des Perikles siehe auch oben, 3.1, Das Ideal.
- Zur Quellenlage siehe die Vorbemerkung zum Anhang II im Cosmiq, „Kriegsursachen…“ sowie dort Anm. 64
- Zum Ältestenrat („Geronten“ mit einem Mindestalter von 60 Jahren) und dessen „Wahl“ siehe wikipedia.
- [folgend der Wortlaut von Anm. 66 aus „Kriegsursachen…“:] Die Bezeichnung „König“ entstammt, wie das gesamte Bild von Sparta, dem Athener Wording: Βασιλεύς /Basileús = „König“ ist ein Negativ-Kampfbegriff aus dem Geschichtsnarrativ der Athener von der Vertreibung ihrer Könige (frühgeschichtlicher Herrscher) lange vor Einführung der Demokratie. Insbesondere wurde dann der Herrscher des Persischen Reiches als Βασιλεύς/“König“ betitelt. Das Persische Reich war der Angst- und Hassgegner aller Griechen aus den gemeinsam bestrittenen und schon damals zum Mythos gewordenen „Perserkriegen“.
Geschichtlich (und auch in bezug auf Sparta) ist die Funktion eines Βασιλεύς /Basileús unklar, das Wort hat ursprünglich auch die Nebenbedeutung eines „Staatsbeamten“.[Einzelheiten bei Wikipedia/Basileus]. Die Athener Propagandisten belegten dann mit „König“(s-Herrschaft) feindliche Regimes, insbesondere natürlich das von Sparta. Ein wenig wie heutzutage die historisch gruselig entstandenen Begriffe „Diktatur“, „imperialistisch“ und „faschistisch“ allseits recht freigiebig-inflationär gebraucht werden.
Aus ähnlichen propagandistischen Gründen wie die Athener Meinungsmacher hat später auch der Römer Caesar an alle möglichen Namen der Gallier ein „-rix“ angehängt: Dabei handelt es sich um eine willkürliche Namensgestaltung. Diese könnte zwar „abgeleitet“ sein aus der vielleicht damals auch schon vorkommenden Namensendung – rik (rihhi) oder – rich (=-reich/mächtig), z.B. so noch im mittelalterlichen Heinrich (urgermanisch Heimirich). Aber mit ihrer verballhornten Fassung, der gallisch klingen sollenden Endung „-rix“, spielt Caesar an auf das verhasste Wort „rex“=(lat.) König, den man in Rom vor urlanger Zeit mittels Revolution zum Teufel gejagt hatte. Caesars Propagandawerk Der Gallische Krieg beginnt mit dem helvetischen (schweizerischen) Orgetorix, der die Königsherrschaft angestrebt und dadurch Unfrieden gestiftet habe, gefolgt von Dumnorix, der ebenfalls König habe werden wollen und deswegen mit der romfreundlichen Politik seines Volkes der Häduer gebrochen habe. Beiden unterstellt Caesar kongruent zur Namensendung als Motiv das Streben nach der Königsmacht – ungeachtet der Tatsache, dass es zu jener Zeit in jenen gallischen Gebieten unter den Stammesfürsten die Stellung eines Königs gar nicht, zumindest schon lange nicht mehr gab. Aber durch den konstruierten Kriegsanlass (neben den üblichen „Hilfegesuchen“ verbündeter Stämme im Alpengebiet) ebenso wie durch die kreative Namensgestaltung seiner Gegner schien der brutale Krieg gegen all diese „rixe“ in einem weitläufigen, über tausend Meilen entfernten Land von Beginn an ein wenig einleuchtender. Später hatte es Caesar laut seinem Bericht dann auch mit den Streithammeln [„rix“ ist auch der lateinische Wortstamm für Zank/Rauferei] Ambiorix und Vercingetorix zu tun. Unter den gallischen Verbündeten Caesars gab es hingegen selbstverständlich keine „-rixe“. Heutzutage bezeichnen einige Historiker Teile dieses gallischen Eroberungskriegs als Völkermord (Genozid). Mit der Unterwerfung ganz Galliens schuf sich Caesar die politische und militärische Basis, um anschließend in Rom die Macht zu übernehmen und die Republik abzuschaffen. Ob er dabei dann gar für sich selbst als Diktator den Titel rex/König anstrebte, ist bis heute umstritten. Unzweifelhaft hingegen ist seine prae-digital virtuose Meisterschaft in den modernen Mitteln der Meinungsmache wie etwa Framing und Wording sowie das Etablieren von Narrativen.
- Platon, Die Gesetze/ Νόμοι/Nomoi, III. Buch. Viele wichtige, aber dem Stand unserer Kenntnis gemäß unsichere Informationen zu den Aufgaben und den Wahlen der Ephoren finden sich bei wikipedia. Der folgende Text enthält illustrativ ein paar bekannte Beispiele von Erwähnungen von Ephoren-Tätigkeiten aus verschiedenen Quellen.
- So wurde z.B. der König und Heerführer Archidamos in Spartas Beschlussfassung zum Krieg überstimmt. Thukydides schreibt, dass der Ephore, der die entscheidende Versammlung leitete, offen für den Krieg gewesen sei und die Abstimmung durch eine Art „Hammelsprung“, also persönlicher und öffentlicher Stimmabgabe, durchgeführt habe. So stimmten die Spartaner also persönlich und öffentlich gegen die Meinung ihrs „Königs“ und für die ihres Ephoren-Beamten.
- So wurde der Großvater von Archidamos, „König“ Leotychidas, ca. 469 v. wegen Bestechlichkeit angeklagt und verbannt. Da sein Vater schon gestorben war, wurde daher Archidamos als Nachfolger seines Familiengeschlechts auch Nachfolger in seinem Amt. Die Ephoren verboten dem Archidamos sogar seine zweite Ehe mit Eupolia, weil sie bei ihrer kleinen Statur nur „Königlein statt Könige“ gebären werde. Weil die beiden trotzdem heirateten, wurde Archidamos von den Ephoren bestraft.
- siehe die Vorbemerkung zum Anhang II im Cosmiq, „Kriegsursachen…“ sowie dort Anm. 63; Eine differenzierte, vom Klischee abweichende Auseinandersetzung mit dem Mythos Sparta als Militärgesellschaft findet sich in academia.edu.
- zu Spartas „Heloten“/ εἵλωτες / Staatssklaven siehe Cosmiq, „Kriegsursachen…“ , Abschnitt 2.2.,“Frontstellung“, 3. Abs. und Anm. 17
- Da die „Fremdstämmigen“ im politische Leben keine Rolle spielten, werden sie trotz ihrer wirtschaftlichen Bedeutung im damaligen Schrifttum höchstens am Rande erwähnt; ein recht anschauliches Bild erhält man immerhin durch Thukydides‘ Schilderung des Kriegsaufbruchs nach Sizilien [Thuk. VI] mit staunenden Volksmassen im Hafen.
- Ausführlicher in Cosmiq, „Kriegsursachen…“, Anm. 18]. Gegen Ende des Krieges flohen allein aus den Silberminen in Attika bis zu 20.000 Sklaven zum „Feind“, der für sie augenscheinlich keiner war.
- Alkibiades war, wie ausgeführt, zuvor in Abwesenheit wegen Frevel verurteilt worden, konnte jedoch später nach Athen zurückkehren. Siehe oben, Abschn. 2.2.2., Strategen und 3.3.2., Vertrauen. Zum Kontext siehe „Kriegsursachen…“, Abschnitt 3.3.2. über die Sizilianische Expedition].
- Genaueres dazu im Artikel „Kriegsursachen…“, Abschnitt 2.5.2. „Athen und die Gründe des Perikles“, mit Anm. 26.
- [siehe oben, in 3.3.1.] Viele Indizien bei Thukydides und Aristophanes sprechen auch für einen aktiven Support des Kleon aus kommerziellen Kreisen. Bei Aristophanes erscheint der Kleon-Protagonist sehr deutlich als „Frontmann“, der von einer Gruppe potenter Mitglieder etablierter Familien nach vorn geschoben wurde, obwohl er genau gegen diese etablierten Kreise in seinen Reden populistisch wetterte.
- siehe oben, Anm. 14, mit weiteren Verweisen. Ein Schelm, wer hier Parallelen in der Gegenwart sieht.
- siehe oben, den Abschn. 2.2.2. über die Strategen und 3.3.2, Vertrauen. Ausführlicher in „Kriegsursachen…“, Abschn. 3.3.2, „Spezialoperation Sizilien“ samt Anmerkungen dort.