Gab es in der DDR Edeka?
Eine gute Frage aus der „Jugendzeit“ von Cosmiq: Gab es in der DDR Edeka? Und wie könnte das sein? EDEKA mit seiner Zentralbank, mit seinen zahlreichen GmbH-Einzelhandelsgeschäften scheint doch geradezu die westliche kapitalistische, freie oder wie auch immer Marktwirtschaft zu repräsentieren? Die DDR aber war in ihrem Selbstverständnis ein sozialistischer Staat, mit zentralstaatlich gelenkter Wirtschaft und Handelsstrukturen. Edeka in der DDR ist doch also eigentlich ein Widerspruch wie Eislaufen in der Sauna, vegane Fledermäuse oder Scratchen im Symphoniekonzert?
Und was, wenn ja? Dann sind die Anschlussfragen eigentlich noch spannender: Wie war es möglich, dass es in der zentralwirtschaftlichen DDR so etwas wie Edeka überhaupt gab? Welche Rolle spielten die Edeka-Läden oder gar ein Edeka-Großhandel? Konnten sie überleben und wie?
Inhalsverzeichnis
Lebenszeichen von EDEKA in der DDR
Anlass für die Frage in der User-Gemeinde von Cosmiq war vor vielen Jahren ein Kaufbeleg von Edeka, der bei eBay versteigert wurde. Mittlerweile sind zum Thema „Edeka in der DDR“ mehr Quellen und neue Berichte zugänglich. Wir können uns ein genaueres Bild davon machen, ob, wo und wie Edeka in der DDR existierte, und auch von ihrer geschichtlichen Entwicklung. Daher haben wir unseren ursprünglichen Cosmiq-Artikel neu gefasst und erweitert.1
Der „Aufmacher“: Eine kaufmännische Rechnung
Am Anfang war es ein kleiner, gelblicher Zettel. Er lieferte den Beweis und löste die Frage und eine Diskussion aus, als er im Internet bei eBay versteigert wurde. Es war eine Rechnung von der „Edeka Genossenschaft Erfurt eGmbH“ aus dem Jahr 1955. Und damals lag die wunderschöne Stadt Erfurt bekanntlich in der DDR.

Ausgestellt war die Rechnung und Lieferung offensichtlich an einen Einzelhändler im ca. 100 km entfernten Arnstedt – wer sonst kauft auch kartonweise Kaffee, 20 Stück Kernseife und 20 Pakete Zwieback? Das ist noch erstaunlicher: Offenbar gab es nicht nur überlebende Edeka-Einzelhandels-Geschäfte in der DDR, sondern auch ihre übergeordneten Einkaufsgenossenschaften bzw. Großhändler.
Als der Beleg im Netz auftauchte, wurde von einigen dessen Echtheit bezweifelt. Das Hauptargument war: Das kann doch nicht sein! Wir kannten nur „HO“ und „Konsum“. Und einige suchten nach Einzelheiten, die sich allerdings als Gegenbeweise als wenig stichhaltig erwiesen.2 Vor allem aber gibt es mittlerweile weitere Belege.
Ein Foto aus den frühen DDR-Jahren
Auf den ersten Blick wirkt das Foto aus der Deutschen Fotothek3 harmlos und ziemlich nichtssagend, aber es hat es in sich. Das Bild zeigt laut Begleittext der Fotothek ein „Lebensmittel-Haus“, aufgenommen vom Ladeninhaber in Dresden ca. 1950. Das Gebäude macht eher einen Nachkriegs-behelfsmäßigen Eindruck. Die mit Kreide handgeschriebenen Angebote zeugen von der damaligen, recht schmalen Versorgungslage. Und dass es dort gar aktuell „Wert-Brot“ gibt, wird gleich an zwei Stellen angepriesen.
Krasser könnte der Gegensatz dieses kleinen Lädchens zu heutigen Edeka-Märkten nicht sein. Man muss schon sehr genau hinsehen, um das offizielle Edeka-Emblem auf dem Schild in der Eingangstür zu entdecken. Und dann kann man sich mit etwas Phantasie sogar vorstellen, dass die Spuren unterhalb des Fensters von ehemaligen EDEKA-Buchstaben stammen. Aber großflächige Reklame für tägliche Bedarfs-Artikel und deren Läden waren in der DDR ohnehin noch für lange Zeit nicht üblich und auch nicht nötig: Man wusste (und wusste zu schätzen), was es wo gab – oder eben auch nicht.4 Die auf einem Tisch vor dem Lädchen verkauften Feldfrüchte dürften in Menge und Arten auch kaum aus einer der – damals noch eher seltenen – großen LPG stammen, sondern eher von privaten Bauern der Umgebung bzw. ihren „Liefergemeinschaften“.5 Auch hier ist nichtstaatliche Initiative (noch) augenfällig.

Werbung per Inserat: Dank für die Treue
Bewegten sich derlei Edeka-Pflänzchen im Untergrund, unter dem Radar der staatlichen Aufsicht? Dem widerspricht das offizielle Edeka-Schild, aber auch andere Veröffentlichungen.
So gibt es ein Inserat im Anzeigenteil der damaligen, öffentlichen Zeitung „Freiheit“ in Halle (Saale) vom April 1958.6 Zwischen amtlichen Bekanntmachungen, Stellenanzeigen, Veranstaltungshinweisen und zahlreichen Glückwünschen zur Jugendweihe – „Wir wünschen euch für euren weiteren Lebensweg viel Erfolg! Helft alle mit beim Aufbau des Sozialismus und verteidigt die Errungenschaften unserer Deutschen Demokratischen Republik!“ – kündigt groß und mittig eine Anzeige vom 50-jährigen Jubiläum der „EDEKA-Genossenschaft Halle/ Saale e.G.m.b.H“. Sie feiert das Bestehen der Genossenschaft seit dem „8. April 1908“.
Im Text bedankt man sich für die Zusammenarbeit und das Vertrauen von „unseren Geschäftsfreunden und Mitgliedern“, insbesondere „allen Hausfrauen, die ihrem EDEKA-Einzelhandelskaufmann die Treue hielten.“ Ganz offiziell gibt es also zu dieser Zeit noch genossenschaftliche Mitglieder sowie Handelspartner („Geschäftsfreunde“) und natürlich treue „Hausfrauen“. Im Zeitalter der Printmedien, ohne Social Media und Internet, waren solche Jubiläums-Annoncen ein gängiges Kommunikationsmittel von Gewerbetreibenden mit ihren Kunden. So konnte man Bekanntheit und Vertrauen durch Medienpräsenz und Beständigkeit herstellen. Es war also nichts Besonderes, aber offenbar war auch nichts irgendwie zu verheimlichen.
Ein wahrhaft historischer Zeitungsartikel
1948, also noch vor Gründung der DDR7 erschien ebenfalls in der Zeitung „Freiheit“, im Lokalteil für Zeitz,8 neben einem redaktionellen Feierartikel zum 3-jährigen Bestehen der Bodenreform9 ein längerer Artikel mit der Überschrift „40 Jahre ‚Edeka‘ in Zeitz“. Der Text berichtet durchweg lobend-positiv von der Jubiläumsveranstaltung. Er beginnt mit den Worten „Der Name ‚Edeka‘ ist für die Hausfrauen und Verbraucher unserer Stadt schon ein Begriff geworden, der nicht mehr zu missen ist.“ Laut diesem Artikel gab es damals in der Sowjetischen Besatzungszone (also dem Gebiet der späteren DDR) 133 Edeka-Genossenschaften mit über 12.000 Einzelmitgliedern. Allein in Sachsen-Anhalt seien es 30 Genossenschaften, und allein dem Zeitzer Edeka-Verband gehörten 70 Einzelgeschäfte an. Auf der Jubiläumsfeier vertreten waren Gäste vom Edeka-Verband Berlin und Halle sowie „Vertreter des Zentral-Verbandes der ‚Edeka’“. Zumindest für diesen Zeitpunkt zeugt der Zeitungsartikel von überregionalen, breit gefächerten und gestaffelten Strukturen.
Die Darstellung der Geschichte von Edeka in diesem Artikel verdient weiter unten eine gesonderte Betrachtung.10 Hier ist erst einmal festzuhalten, dass laut Zeitungsartikel natürlich auch Vertreter der städtischen Behörden sowie des FDGB ihre Glückwünsche überbrachten11 und eine gewerkschaftliche Kapelle den musikalischen Rahmen bot. Der Text schließt mit den Worten „Bereichert wurde der Abend noch durch gesangliche Darbietungen und Vorträge lustiger Art, die allen Anwesenden für ein paar Stunden die Sorgen des Alltages vergessen ließen.“

Verstaatlichung, Zentralwirtschaft und Genossenschaften
All diese Dokumente führen uns zu der zentralen Frage: Edeka, eine eigenständige Organisation unabhängiger Einzelhändler und gar Großhändler in der DDR? Wie konnte das sein, wo doch Produktion und Handel in der DDR bekanntlich verstaatlicht waren?
Die kürzeste Antwort darauf lautet: Sie waren es nicht von Anfang an und nie vollständig.
Selbst 1972 gab es insgesamt noch ca. 11.000 private Betriebe in der DDR mit ca. 50.000 Beschäftigten, die noch ca. 15% der Industrieproduktion erwirtschafteten.12 Mit Honeckers Übernahme der DDR-Führung in diesem Jahr kommt es dann zu einer verstärkten Verstaatlichung der verbliebenen Privatbetriebe.
Die DDR wurde am 7.Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet (die Bundesrepublik in den drei westlichen Besatzungszonen bereits am 24. Mai 1949, die „westdeutsche“ D-Mark wurde schon im Juni 1948 in den Westzonen eingeführt). Zu dem Zeitpunkt hatte die sowjetische Besatzungsmacht bereits die ersten gesetzlichen Grundlagen für eine Verstaatlichung der Großindustrie geschaffen. Diese sah man als ursächlich und mitverantwortlich für den Sieg des Faschismus an.13
Herkunft der Konsumgenossenschaften
Auf der anderen Seite gab es seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland Konsumgenossenschaften. Sie entstammten größtenteils der Arbeiterbewegung und sollten für die Arbeiterschaft eine eigene, unabhängige Versorgung mit Lebensmitteln ermöglichen. Dabei stützte sie sich vorwiegend auf regionale Kleinbauern. Diese genossenschaftliche Selbstversorgung sollte in Beschaffung und Preisgestaltung vom großen Handelskapital unabhängig sein; die Genossenschaften wurden durch Anteile ihrer Mitglieder/Verbraucher selbstfinanziert und demokratisch selbstbestimmt. Viele Genossenschaften verbanden damit auch die Perspektive einer allmählichen Überwindung eines Kapitalismus, der in ihren Augen global ausbeuterisch und kriegstreibend unterwegs war und nicht zuletzt die kleinen örtlichen Lebensmittelproduzenten zugrunde richte.

Im Faschismus wurden die Konsumgenossenschaften dann ebenso wie die Gewerkschaften als Teil der Arbeiterbewegung zerschlagen bzw. in den nationalsozialistischen Apparat „eingegliedert“.14 Im Gegenzug wurden die Konsumgenossenschaften bzw. ihr einheitlicher Dachverband bereits am 18.12.1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht wieder ins Leben gerufen und fortan geschützt.15
Staatliche HO und Konsum
Daher wurde der Groß- und Einzelhandel in der DDR seit 1948 von zwei Hauptmächten bestimmt. Das waren zum einen die HO (Handelsorganisationen), die zentral gelenkten Groß- und Einzelhandels-Einrichtungen in der Rechtsform des Staatseigentums. Sie unterstanden dem Ministerium für Handel und Versorgung, ihre Aufgaben wurden jeweils im Volkswirtschaftsplan festgelegt. Daneben gab es vor allem den Konsumgenossenschaftsverband mit eigenen Produktions- und Handelsbetrieben in regionalen Strukturen („Konsum“). Im Gegensatz zu den drei Westzonen16 machte die sowjetische Besatzungsmacht schnell den juristischen Weg für einen Neustart frei.17 Und so hatten die Konsumgenossenschaften dort anfangs einen Marktanteil von ca. 40% des Lebensmittel-Umsatzes.
Dabei hatten die HO vom Start weg allerdings einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil: Ihre Verkaufsstätten konnten plangemäß sehr schnell begehrte Gebrauchsgüter und Lebensmittel ohne Lebensmittelmarken verkaufen. Entsprechend wurden sie bei der Belieferung bedacht. Die HO deckte 1960 bereits 37% des Einzelhandelsumsatzes in 35.000Geschäften ab.18
Aber selbst Walter Ulbricht war nicht so verrückt, bei der zentralen Frage, der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung, alles auf eine Karte zu setzen, und die Konsumgenossenschaften hatten mit ihrem geschichtlichen Hintergrund eine besondere, auch von der Sowjetunion geschützte Stellung. 1990, nach dem Ende der DDR, gab es immerhin noch über 32.000 Konsum-Verkaufsstellen.19
Und was hat das jetzt alles mit Edeka zu tun?
Edeka war ursprünglich eine Genossenschaft. Sie wurde 1898 als „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“ (EDK) gegründet und 1907 mit anderen zu einem nationalen Verband namens „Zentraleinkaufsgenossenschaft des Verbandes deutscher kaufmännischer Genossenschaften eGmbH“ vereinigt. Dieser gründete 1914 eine eigene Bank und nahm v.a. in der Weimarer Republik mit 72 Mitglieds-Genossenschaften einen steilen Aufstieg.
Aus der Geschichte von Edeka
Dabei verstanden sich allerdings die Genossenschaftsmitglieder keineswegs als Teil der genossenschaftlichen Arbeiterbewegung, im Gegenteil: Die Zunahme ihrer Gründungen im Kaiserreich erfolgten eher „angesichts der wachsenden Konkurrenz durch Konsumvereine, Warenhäuser und Filialbetriebe“20 Die Einkaufsgenossenschaften freier Einzelhändler erschien vielen Mitgliedern und Zeitgenossen auch als Gegengewicht zu den erstarkenden Konsumgenossenschaften in der Arbeiterbewegung. Anfang 1933 forderte die Edeka-Gruppe ihre Mitglieder auf, den nationalsozialistischen „Kampfbünden für den gewerblichen Mittelstand“ beizutreten. Am 18. April 1933 erklärte die Edeka-Gruppe freiwillig offiziell ihre Gleichschaltung mit dem NS-Regime. Das hatte zur Folge, dass ein erster und ein zweiter Präsident, jeweils mit NSDAP-Parteibuch, den Generaldirektor kontrollierten. Damit waren demokratische Verbandsstrukturen faktisch ausgehebelt. Und auch der damalige langjährige Generaldirektor trat im April 1933 der NSDAP bei.21
Diese Anpassung erfolgte im Rückblick keineswegs wesentlich auf Druck „von oben“: „Weil die Nationalsozialisten den Einzelhandel unterstützen und mit der Machtergreifung für die oft von Juden geführten Warenhäuser sowie die der Arbeiterbewegung nahestehenden Konsumvereine schwere Zeiten anbrechen, hat das NS-Regime unter den EDEKAnern zahlreiche Anhänger.“22 Diese Haltung ist von zahlreichen NS-Beitritten, „geschlossenen“ Teilnahmen an faschistischen Veranstaltungen, Aufforderungen zur Propaganda in den Geschäften und Bekenntnissen begleitet. „So erklärt es die EDEKA Bremen 1933 in ihrem Geschäftsbericht als ‚ihre Pflicht (…), die neue Regierung in jeder Weise zu unterstützen‘.“ 1935 appelliert die EDEKA Neuruppin an ihre rund 70 Mitglieder, „die Lehre Adolf Hitlers immer wieder aufs Neue den Lauen und Wankelmütigen unter ihren Kunden zu verkünden.“23
Politik folgt der Ökonomie
Trotz aller wirtschaftlichen Überlegungen bei der Entstehung der DDR ist es also doch ein wenig verwunderlich, dass ausgerechnet die Edeka-Verbände Teil ihres politisch bestimmten, „sozialistischen“ Wirtschaftssystems wurden. Als Einkaufsgenossenschaft deutscher Kaufleute – E.d. K. (EdeKa) – bzw. dann auch interpretiert als EDEKA – Einkaufsgenossenschaft Deutscher Einzelhandels Kaufleute24 – waren sie zweifellos Genossenschaften, aber sie waren ebenso zweifelsfrei nicht mit der Arbeiterbewegung oder einer antifaschistischen Tradition in Verbindung zu bringen.
Für die Fortsetzung hier noch einmal die betriebswirtschaftlich-formale Unterscheidung der Ursprünge: Während in den Konsumgenossenschaften der Arbeiterbewegung die Kunden/ Verbraucher als Genossenschaftler/ Eigentümer ihre Läden selbst besaßen und organisierten, bestanden in den Edeka-Verbänden die Genossenschaftler aus den Ladenbesitzern, aus Einzel- und Großhandelskaufleuten. Als selbstständige Kaufleute hatten diese schon gar nichts mit den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) 25 der späteren DDR zu tun.

Waren derlei Feinheiten über „Genossenschaften“ als Hebel der Neuordnung aus der Moskauer Entfernung vielleicht nicht so wirklich erkennbar? Vordringlich war vermutlich das dokumentierte Bestreben der sowjetischen Besatzung, in der „Konkurrenz der Systeme“ vor allem die Wirtschaft zum Laufen zu bringen, wie auch immer. Außerdem gab es schon früh Anweisungen, sich durch Reparationen und Entnazifizierung nicht die gesamte Bevölkerung zum Feind zu machen.26 Ironisch könnte man hier den unter Stalin zum Glaubenssatz banalisierten „marxistischen“ Grundsatz zitieren, dass die (ökonomische) „Basis“ halt doch den (politischen) „Überbau“ bestimme.27
Korrekturen für den Neubeginn
Der schon zitierte Artikel in der Zeitung Freiheit von 1948 zeigt exemplarisch, wie man politische Voraussetzungen wirtschaftlichen Handelns mit „alternativen Wahrheiten“ ebnen kann. Mit seiner Umrahmung (neudeutsch: Framing) durch einen lokalen Leitartikel über die Bodenreform von 1945, die später dann als Basis für die LPG (landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften) dienen sollte,28 bekommt er quasi richtungsweisende Bedeutung. Zu Jubiläum und Geschichte der Edeka heißt es da:
„Die Einkaufsgenossenschaft deutscher Kolonialwarenhändler [!] hat sich seit dem Tag ihrer Gründung zum Ziel gesetzt, durch den Zusammenschluß aller kleinen Einzelhandelsgeschäfte die Voraussetzungen für einen günstigen Einkauf im Interesse der Verbraucher zu schaffen. Die Genossenschaft entwickelte sich zu einem wirtschaftlichen Faktor, und damit war auch die Existenz der im Konkurrenzkampf mit den kapitalistischen Großbetrieben stehenden kleinen Geschäfte gesichert. Die ‚Edeka‘ hat keine monopolistischen Bestrebungen, sondern sie vertritt die Interessen der kleinen Einzelhandelskaufleute und hat sich neben den Konsumgenossenschaften große Verdienste bei der Verbraucherschaft erworben.“ 29
Mit der Gegnerschaft zu „kapitalistischen Großbetrieben“ und „monopolistischen Bestrebungen“ wird Edeka hier gleichsam in eine antimonopolkapitalistische Front eingemeindet, das niemals aus Gewinninteressen, schon gar nicht im Gleichklang mit den nationalsozialistischen „Kampfbünden für den gewerblichen Mittelstand“ gehandelt hätte, vielmehr wie seit eh und je „im Interesse der Verbraucher“.
Gegenteiliges wird in dem Artikel sorgsam ausgelassen. Das gilt auch für die Wiedergabe vom „Bericht über die Entwicklung der Genossenschaft“ des damaligen Geschäftsführers:
„Er zeigte auf, wie schwer es anfänglich war, den Genossenschaftsgedanken überhaupt durchzusetzen, welche Schwierigkeiten dann in der Weiterentwicklung auftraten, vor allem während des 1. Weltkrieges und der darauffolgenden Inflation und auch nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Doch nun geht auch die Entwicklung der ‚Edeka‘ wieder aufwärts.“ 30
Hier entsteht der Eindruck, als wenn der „Genossenschaftsgedanke“ geradezu von den Edeka-Kaufleuten, und nicht in der Arbeiterbewegung entwickelt und „durchgesetzt“ worden wäre. Das ist gefährlich nahe an der im Nationalsozialismus verbreiteten Ideologie vom „Genossenschaftsgedanken“ als Bestandteil und Erbe einer „Volksgemeinschaft“ statt der Arbeiterbewegung.31
Und auch sonst reibt man sich beim Lesen dieser Entwicklungsgeschichte verwundert die Augen: Zwischen der Inflation (Mitte/Ende der 1920er Jahre) und dem Ende des 2. Weltkriegs ist – nichts! Faschismus samt Krieg wie weggezaubert!

Und es gibt im Artikel noch ein großes, unhinterfragtes Nichts: Der berichtende Geschäftsführer sei „seit 27 Jahren tätig“. Wir rechnen nach: also seit 1921. Also vor, während und nach dem Faschismus, als Edeka im „Führerprinzip“ gleichgeschaltet war. Das indirekte Verschweigen der „dunklen Zeit“ war in den Nachkriegsjahrzehnten in West und Ost eher der Normalfall, „Aufbau“ und „nach vorne schauen“ war angesagt. Denn jeder kritische Rückblick erzeugte vor allem Angst vor der Entdeckung möglicher eigener Mitschuld. Insofern kam die allgemeine staatliche Einordnung in eine „antifaschistische Tradition“ allzu oft sehr zupass. Der zitierte Text einer offiziellen, von der sowjetischen Besatzung zweifellos zugelassenen und zensierten Zeitung kann dafür als Beispiel gelten.32
Insbesondere hier, zu Beginn des proklamierten Aufbaus einer neuen, antifaschistischen Gesellschaftsordnung, wirkt diese unwahrhaftige Haltung zur Geschichte befremdlich. Vielleicht aber ist sie auch trotz all des stalinistischen „antifaschistischen“ Terrors bezeichnend. Auf der Zeitungsseite ist jener Artikel fast allegorisch auch noch mit Themen der politischen Organisation des entstehenden neuen Staates umgeben: Da werden in einer Annonce des FDGB seine Mitglieder in 6 namentlich genannten Betrieben „nochmals verwiesen“, zur „Mitgliederversammlung der IG Chemie“ zu erscheinen und endlich Betriebsgruppen zu bilden! Und unter Emblem und Sparte „Hier ruft die SED“ wird verlautet: „Alle Referentenschulungen in den Arbeitsgebieten werden nicht durchgeführt“. Da hat man ein wenig den Eindruck vom Hasen und dem Igel: Während der sozialistische Hase sich noch im Organisationsaufbau abhetzt, ist der Igel in Form der EDEKA-Kaufleute und Ihrer Verbände schon irgendwie vielfach und gewendet da.33
Edeka gegen Ende der DDR
In der Bundesrepublik Deutschland hatte Edeka schon lange ihren genossenschaftlichen Charakter abgelegt. Edeka, deren einzelne Läden noch immer von selbständigen Kaufleuten in Form von Personen- oder oft auch Kapitalgesellschaften (GmbH) geführt werden, ist in der Zentrale seit 1972 eine Aktiengesellschaft. Zur gleichen Zeit, als in der Bundesrepublik Deutschland die Edeka-Geschäfte unübersehbar wurden, sich zeitgemäß oft zu großen Supermärkten entwickelten,34 werden die Spuren von Edeka in der DDR nach den oben genannten aus den 1950er Jahren eher spärlicher. Wie auch für andere, z.B. handwerkliche, privatkapitalistische Betriebe hieß die Parole in der DDR wohl eher: Nicht auffallen, sondern mitschwimmen.
Zahlen und Orte
Eine Dokumentation der Edekabank AG von 202135 liefert dazu folgende Zahlen und Hinweise:
1949, im Gründungsjahr der DDR, gehörten dort immerhin noch 130 Genossenschaften dem Edeka-Verband an. Davon waren 1989, im Wende-Jahr, noch 9 Genossenschaften übrig, von denen nur noch einige wenige überhaupt Einzelhandels-Läden betrieben. Diese 9 Genossenschaften waren die von Riesa, Bitterfeld, Wittenberg (mit 32 Mitgliedern/ 25 Läden), in der Börde (Straßfurt), Mülsen (mit 12 Mitgliedern), Crimmitschau (15 Mitglieder/ 6 Geschäfte), Forst i. d. Lausitz, Großröhrsdorf und Wilthen. Vom Edeka Wittenberg gibt es noch von 1988 ein sichtbares Lebenszeichen in Form eines offiziellen Aufklebers.36
Die genannte Dokumentation führt zu diesen 9 Genossenschaften aus: Als weiterhin privatwirtschaftliche, wenn auch genossenschaftliche Unternehmungen seien sie, etwa im Gegensatz zu den HO und Konsum-Läden, von der staatlichen Planwirtschaft mit Lebensmitteln abgeschnitten gewesen. Ähnlich, aber etwas anders berichten die Genossenschaftler der Edeka „Börde“ ihren Kollegen der Edeka Minden unmittelbar nach der Wende anhand ihres Protokollbuchs über die „Sorgen und Nöte der hinter uns liegenden Jahre“. In anhaltender allgemeiner Mangelwirtschaft sei sie zusätzlich noch „bei der Warenzuteilung benachteiligt“ worden. Die Beschaffung von Ersatzteilen für einen kaputten Lastwagen dauerte auch noch 1989 mehrere Wochen.37 Andere Berichte bezeugen, dass die Warenbeschaffung aber auch für HO-Läden ein Dauerproblem darstellte.38 Es muss also ungeklärt bleiben, wie stark die – zweifellos gegebene – Benachteiligung von Edeka-Betrieben im einzelnen in der Praxis letztlich ausfiel. Das könnte nicht zuletzt auch an der jeweiligen „Konkurrenzsituation“ bei der örtlichen Lebensmittel-Versorgung gelegen haben. So wäre jedenfalls erklärbar, dass in den Großstädten keine Edeka-Genossenschaften mehr auffindbar waren.

Wirtschaftlich bzw. für die Lebensmittel-Versorgung spielten die Edeka-Genossenschaften bzw. ihre Einzelläden jedenfalls keine nennenswerte Rolle mehr.
In ihrer Rechtsform waren diese Überbleibsel nach wie vor Genossenschaften, „eGmbH“.39 Auch für sie galt formalrechtlich weiterhin das Genossenschaftsgesetz der DDR. Dem gemäß gab es in der DDR bis zuletzt auch einen zentralen Edeka-Prüfverband, der aber keine praktische Funktion hatte. Nach der Wende trat der zentrale Edeka-Verband die Rechtsnachfolge an. Der forderte nun von den noch bestehenden Genossenschaften aus der DDR Verbandsbeiträge und Beiträge zum Edeka-Garantiefonds ein. Diese Gelder konnten jedoch laut Bericht der Edekabank nicht eingetrieben werden. Denn alle 9 Genossenschaften waren entweder aufgelöst oder mit westdeutschen Genossenschaften fusioniert worden.40
Die Wende bei Edeka
Nach der „Wende“41 herrschte auch in den westlichen Edeka-Verbänden Goldgräber-Stimmung: „Es hat uns keiner gerufen. Es hat uns keiner geschickt. Der Geist war: Da ist ein Markt. Da müssen wir hin“, so ein Zitat aus jener Zeit,42 ergänzt mit dem nachträglichen Kommentar: „Da galt es mitzumischen, schneller zu sein als andere.“ Es war nun halt Marktwirtschaft. Zwecks Aufbau eines Handelsnetzes wurden Kontakte zu Edeka-, aber auch zu HO-Betrieben aufgenommen, auch Konsum-Filialen wurden von Edeka beliefert. Anfangs fand der Verkauf der begehrten Lebensmittel bzw. ihrer Markenprodukte sogar direkt vom Westen aus statt; notfalls verkaufte man sie wie auf einem Fischmarkt von LKW-Ladeflächen. Mangels geeigneter Marktgebäude betrieb man den Verkauf über Jahre hinweg auch in riesigen Veranstaltungszelten.

Es dauerte eine Zeit, bis sich, oft begleitet von Kreditproblemen bei der Edeka-Zentralbank, im Ausbau von kleinen Läden, aber auch mittels Neugründungen von Großmärkten, eine Struktur moderner, großer Märkte in Privateigentum etabliert hatte.43 Für Edeka ist es eine „Erfolgsgeschichte“: So übernahm allein die Edeka Minden-Hannover nur im März 1992 ganze 161 Geschäfte der in Konkurs gegangenen Konsumgenossenschaft Halle mit 1.600 Mitarbeitenden und 41.000 qm Verkaufsfläche. Durch Übertragung an „ostdeutsche Existenzgründer“ wurden davon schon im Herbst des Jahres drei Viertel der Märkte privat geführt. 1993 gab es in Sachsen-Anhalt 152 Märkte „unter Edeka-Flagge“, davon 46 in jenem Jahr neu eröffnete. Das führte zu einem Umsatzzuwachs auf über 4 Mrd. D-Mark für Edeka Minden-Hannover.44 Durch die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen und einer qualitativ hochwertigen Versorgung habe Edeka nach eigener Wahrnehmung einen wesentlichen Beitrag zur Wiedervereinigung geleistet, so die „Chronik“.
Schluss
Es gab also – sogar bis zuletzt – Edeka in der DDR. Vor allem am Anfang hatte sie – trotz oder dank aller politischen Kapriolen – durchaus einen Anteil an der Belieferung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Noch mehr als andere litt sie unter der meist prekären Versorgungslage. Mit der politisch betriebenen Ausdünnung des privatwirtschaftlichen Sektors vor allem in den 1970ern nahm auch Edeka in Zahl und Bedeutung ab.
Hatte Edeka einen Anteil am letztlichen Scheitern der staatlich gelenkten DDR-Wirtschaft? Sicherlich nicht; eher hatte sie anfangs eine stützende, Mängel kompensierende Funktion. Hätte eine starke Edeka das Scheitern der sogenannten „Planwirtschaft“45 verhindern können? Sicherlich auch nicht. Für ihren wirtschaftlichen Untergang hat die herrschende Politbürokratie – bei allem Zutun durch ein global kapitalistisches Umfeld – im wesentlichen selbst gesorgt. In ihrem bürokratischen Zentralismus beargwöhnte sie jegliche Initiative und Korrektur „von unten“. Mangels demokratischer Strukturen mit ihren Feedback-Schleifen war sie immun gegen Lern- und Optimierungsmöglichkeiten.46
In der DDR waren die staatlich festgesetzten EVP (Einheitsverkaufspreise) für Lebensmittel niedrig, und besonders Brot war extrem billig. Sein Preis lag weit unter den Herstellungskosten. Brot wurde also massiv u.a. durch hohe Preise für „Exquisit-“ und „Luxusartikel“ quersubventioniert. An den Brotpreisen hat auch der Staats- und Parteiführer Honecker entgegen der Warnung seiner Wirtschaftsfachleute festgehalten: Es solle, so das Narrativ, nie wieder in der Geschichte vorkommen, dass sich irgendjemand kein Brot kaufen könne, weil es zu teuer wäre. Die reale Folge war, dass viele DDR-Bürger auf dem Land das Brot auch an ihre Kaninchen und Hühner verfütterten.47 Unabhängig davon, ob diese Legende einen faktischen oder nur ideologischen Kern hat: EDEKA hätte – mit oder ohne „Kolonialwaren“ im Namen – in ihrem Fortbestand weder an den „sozialistischen“ Brot- und Lebensmittelpreisen etwas ändern können noch an der zunehmend erstickenden Devisensituation und dem sich abzeichnenden Staatsbankrott.
Anmerkungen
- Archive und auch Hobbysammler namentlich in einer facebook-Sammlung haben inzwischen einige Quellen, v.a. Bilder zusammengetragen, die die Existenz von EDKA auch in der DDR belegen. Schwieriger wird es bei der Frage, wie und in welcher Form EDEKA überlebt hat, ob nur in Form von Einzelläden oder gar als Organisation.
- Als Gegenargument wurde z.B. das in der Abbildung schlecht lesbare Rechnungsdatum (1937 statt 1955?) angeführt, das allerdings durch den Datumsvordruck für die Unterschrift bestätigt wird. Auch die einzelnen Waren sprechen nicht gegen, sondern für die 1950er Jahre und damit für die DDR: Quieta Kaffee-Ersatz gab es zwar auch schon im Faschismus, aber eben auch in der DDR, später dort allerdings unter anderem Markennamen. Gleiches gilt für Perlon – bis es in der DDR aufgrund eines Markenstreits mit der BRD-Firma erst widerwillig, dann neckisch in DeDeRon umbenannt wurde. Allerdings war dieses Perlon-Material vor 1945 im privaten Handel in Deutschland definitiv nicht verfügbar, schon gar nicht für Alltags-Textilien.
„Tröstlich“ oder eher beunruhigend: Auch unsere diversen Künstlichen Schlauberger (landläufig „Intelligenz“ genannt) tun sich schwer damit, dass das Wahrscheinlichste nicht immer das Wahre ist. Das liegt nicht an Dummheit oder Unterentwickeltheit, sondern schlicht an ihrem Algorithmus, der sequenziell auf das statistisch wahrscheinlichst erwartete nächste Wort und damit tendenziell auf den kontextuell jeweils verbreitetsten Inhalt abzielt. Daher ist es für die künstlichen Intelligenzen besonders gemein von Geschichte und Zeitgeschehen, dass diese sich nicht auf wenige verschlagwortete Hauptlinien reduzieren lassen, an denen sich dann die Einzelereignisse und Fakten widerspruchsfrei wie Perlen an einer Kette aufreihen lassen. - Quelle: Deutsche Fotothek mit freundlicher Genehmigung, © Deutsche Fotothek / Rudolf Lang. Laut Begleittext aufgenommen von Rudolf Lang unter dem Titel „Dresden-Naußlitz, Pietzschstraße 1. Lebensmittel-Haus. Eingangsseite, um 1950“
- Allerdings ist festzuhalten, dass auch die westlichen Edeka-Läden in der damaligen Zeit eher im Tante-Emma-Stil auftraten und auch ihre Großhandels-Stationen eher ländlich-bescheiden wirkten. So belegt durch eine offizielle Festschrift mit Fotos von 1952, „25 Jahre EDEKA Großhandel“ aus Schwandorf (Bayern), nämlich von 1927 bis 1952: „Firmensitz“ dieses Großhandels war ein Wohnhaus mit Emblem am Giebel, und auch der „Fuhrpark“ mit 2 Lieferwagen ist weit entfernt von heutigen Dimensionen.
- LPG = Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft: Im Zuge der Bodenreform 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone wurde das Land von Großbauern enteignet und wo möglich in Parzellen auf kleine „Neubauern“ (oft ehemalige Landarbeiter oder auch Kriegsflüchtlinge) umverteilt. Unter dem wachsenden Druck von staatlichem Ablieferungssoll bildeten diese ab 1950 mitunter so genannte „Liefergemeinschaften“. Diese Zusammenschlüsse „von unten“ wurden vom neu gegründeten DDR-Staat zunächst beargwöhnt und sogar kurzzeitig verboten. Auf Druck der Sowjetunion wurden sie dann unter dem Label „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften“ zum vorbildlichen und staatlich geförderten Modell erklärt. 1952 beschloss die SED das Ziel der Vergesellschaftung der Landwirtschaft. Die neuen Bauern sollten „freiwillig“ den LPG in verschiedenen Ausformungen beitreten. Der Druck zum Beitritt kam von Produktionsnormen, die im Einzelkampf auf kleinen Höfen oft nicht zu erfüllen waren, und durch die Zuteilung von Produktionsmitteln wie Landmaschinen. Je nach Grad der Vergesellschaftung des Betriebseigentums der Genossenschaftler gab es zunächst verschiedene LPG-Typen: von lediglich gemeinsam genutzten Äckern und Grünflächen bis zu prinzipiell gemeinsam bewirtschaftetem Land mittels kollektiver Maschinen, Gebäude und Vieh. 1953 gab es einen Zwischenschritt zur Unterstützung der unterschiedlichen landwirtschaftlichen Betriebe: So genannte MTS (Maschinen-Traktoren-Stationen) wurden per Verordnung des Ministerrats zur Unterstützung der Frühjahrsbestellung verpflichtet, „Jahresarbeitsverträge“ mit den LPGn, aber auch den „werktätigen Einzelbauern“ zu schließen. [Verordnung des Ministerrats vom 08.01.1953, Artikel Neues Deutschland vom 07.02.1953, S. 3]1959 wurden die LPGn auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Bestimmend wurde nun Typ III der LPG, in dem sämtliche Flächen, Maschinen, Gebäude und auch das Vieh in die Genossenschaft eingebracht wurde, auch wenn sie formell weiterhin Privatbesitz blieben. Nach massivem Druck schlossen sich im Frühjahr 1960 dann 500.000 bis dahin noch privat wirtschaftende Bauern einer LPG an. [alle Informationen aus: bpb, Vor 60 Jahren…(über das LPG-Gesetz), vom 29.05.2019] Eine ähnliche Kollektivierungs-Kampagne im Nachbarland Polen scheiterte übrigens: Die bäuerlichen Kollegen dort weigerten sich hartnäckig, ihren gerade erst aus Junker-Hand erhaltenen Landbesitz faktisch wieder abzugeben, verzichteten lieber auf die in Aussicht gestellten Landmaschinen und legten sich mit der staatlichen Konkurrenz und auch den Organen des Staates an. LPG blieben dort marginal [Stanislawa Hegenbarth, Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in Polen, in: Osteuropa Vol. 25, No. 4 (April 1975)]
- Freiheit, [seit 1990 Mitteldeutsche Zeitung (MZ)], April 1958 [Dokument lizenziert für Leipziger Staedtische Bibliotheken, uW21708j]
- Die DDR wurde am 07.Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet
- Freiheit, [seit 1990 Mitteldeutsche Zeitung (MZ)], Lokalteil für die Stadt Zeitz in Sachsen-Anhalt, Ausgabe 8.09.1948, [Dokument lizenziert für Leipziger Staedtische Bibliotheken, uW21708j]
- Zur Bodenreform und den späteren LPG in der DDR siehe oben Anm. 5
- siehe den Abschnitt 3.3. Korrekturen
- Diese Ehre wurde staatlichen Betrieben augenscheinlich nicht immer zuteil. So beklagte sich die Belegschaft der HO Industriewaren Berlin-Weißensee am 5. Februar 1953, dass zu ihrer Belegschaftsversammlung weder die eingeladenen Vertreter der Bezirksverwaltung, noch die Volksvertreter erschienen waren. Nach einem Rüffel durch das Zentralorgan des ZK der SED Neues Deutschland reagierten diese allerdings prompt [Neues Deutschland 07.02.1953, S. 6]. FDGB = Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, der später DDR-staatlich offizielle gewerkschaftliche Dachverband
- Zahlen nach MDR, Zeitreise, Als die DDR die letzten Familienbetriebe verstaatlichte, vom 12.07.2022. Zu den Zahlen in der Landwirtschaft siehe oben, Anm. 5
- Damit standen die Sowjetunion bzw. die Kommunistischen Parteien zunächst nicht alleine da. Auch in den westlichen Besatzungsmächten sah man eine enge Verknüpfung und Mitschuld industrieller Großkonzerne mit dem Faschismus. Und auch die CDU in der (westlichen) britischen Besatzungszone formulierte in ihrem „Ahlener Programm“ 1947, „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Daher brauche es eine grundlegende, „gemeinwirtschaftliche“ Neuordnung. „Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.“
- Teilweise wurden Konsumgenossenschaften gleich zerschlagen, teilweise mussten sie sich zu „Verbrauchergenossenschaften“ umbenennen und umstrukturieren. 1941 wurden dann alle verbleibenden Konsumgenossenschaften zwangsweise aufgelöst. Deren kaufmännische Organisation samt Warenbeschaffung wurde als „Gemeinschaftswerk der Deutschen Arbeitsfront“ in die Kriegswirtschaft integriert. Dadurch wurden die Mitglieder als Anteilseigner faktisch enteignet. [Angaben nach Genossenschafts-Museum Hamburg]. Auch andere Quellen [etwa der Beitrag im Deutschlandfunk „Genossenschaften: Den Nazis ein Dorn im Auge“] berichten, dass die Konsumgenossenschaften im Faschismus, oft mit ausgetauschter Führung, in die Deutsche Arbeitsfront „eingegliedert“ oder auch, je nach politischer Ausrichtung, zerschlagen worden waren. Jüngere Forschungen beschreiben hingegen auch Versuche der nationalsozialistischen Ideologen, nach der Zerschlagung den „Genossenschaftsgedanken“ mit Bezug auf das Ideologem der „Volksgemeinschaft“ als urdeutsches und nationalsozialistisches Narrativ zu etablieren. Wie so vieles in der faschistischen Ideologie erweist sich auch dies, zumindest mit Blick auf die praktische Durchführung, keineswegs als einheitlich oder gar durchgängig. Widerspruchsfrei war die nationalsozialistische Ideologie sowieso nicht, eher schon ein Konglomerat alter und neuer ideologischer Versatzstücke.
- Zur sowjetischen Förderung des Genossenschaftsprinzips auch im Verhältnis zu staatlichen Unternehmensgründungen siehe auch oben die Anm. 5 zu den LPG.
- Nach dem Sieg über den Faschismus taten sich die drei von den westlichen Alliierten besetzten Zonen schwerer bei der Umwandlung des faschistisch novellierten Genossenschaftsgesetzes und der Klärung von Eigentumsfragen, so dass dort die Anzahl der Genossenschaften stark zurückging. Ausführlich: Martens, Anders wirtschaften. Genossenschaftliche Selbsthilfe, in APuZ, 2015
- Juristische Voraussetzungen waren vor allem die Reform des im Faschismus „umgestalteten“ Genossenschaftsgesetzes und die rigorose Klärung von Eigentumsfragen in Folge der NS-Aneignungen in Industrie und Landwirtschaft.
- [Zahlen aus Wikipedia, HO]. Lebensmittelmarken, also kontingentierte Berechtigungs-Marken für Lebensmittel-Kauf, gab es in Deutschland schon im 1. Weltkrieg. Sie wurden wieder im August 1939, also schon kurz vor dem faschistischen Überfall auf Polen (Beginn des 2. Weltkriegs), eingeführt. Die persönliche Bezugsmenge schwankte je nach Versorgungslage und war für verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich. 1945, nach Ende des Kriegs, wurden erneut Lebensmittelmarken zunächst von den Besatzungsmächten ausgegeben, ab Juni 1945 in verschiedenen Systemen in Ost und West. Diese wurden nach der Gründung von BRD und DDR (1949) beibehalten. In der BRD wurden die Lebensmittelmarken 1950 abgeschafft. In der DDR gab es sie bis 1958 (für Kartoffeln sogar bis 1966). „Marken-Lebensmittel“ waren in der DDR allerdings oft subventioniert und daher günstiger; die Abschaffung der Marken führte also zu einem Preisanstieg. Anfang der 1960er wurden vorübergehend wegen Engpässen einzelne Lebensmittel erneut rationiert und nur an Ortsansässige ausgegeben. Das wirkte übrigens informell fort: Noch lange Zeit (angeblich bis in die 1980er) waren z.B. Bootstouristen in der Mecklenburger Seenplatte faktisch gezwungen, alles Wichtige von zu Hause mitzubringen, weil sie damit rechnen mussten, in den örtlichen Läden als „Nicht-Ansässige“ einfach nichts zu bekommen. [Alle Informationen und mehr in Wikipedia, Lebensmittelkarte. Ergänzend zu „Mecklenburg“ mündlicher Bericht von Betroffenen aus der Nachwende-Zeit, als die Motorboote auch bei Urlaubsbeginn nicht mehr so tief im Wasser lagen, ohne Beleg]
- a.a.O. „Dorn im Auge“
- So die vorbildliche Edeka-Jubiläums-Chronik der Edeka Minden von 2020, hier Teil 1.
- Quellen mit Einzelheiten dazu und zum folgenden: Profit.de, Wer hat Edeka-gegründet?, und edeko.de, Angebote. (Ein Überblick bei wikipedia/Edeka). Fritz Borrmann, Mitbegründer der EDK und seit langem ihr Generaldirektor, war zugleich Generalsekretär der Wirtschaftspartei (WP) und saß für sie im Reichstag. Die WP, offiziell bald auch „Reichspartei des deutschen Mittelstandes“, agierte als rechtskonservativer Interessenverband selbstständiger Handwerksbetriebe und Kaufleute. Die WP löste sich, beginnend vor 1933, erst in den Landesverbänden, im April 1933 dann auch zentral, mit Wahlempfehlungen für die NSDAP auf. Das Unternehmen EDEKA wurde ab 1936 offiziell nach dem faschistisch angesagten „Führerprinzip“ geführt. Das bedeutete, dass Entscheidungen nur noch zentral und ohne Abstimmung getroffen wurden.
- So die Feststellung der schon zitierten vorbildlichen Jubiläumschronik 2020 der Edeka Minden, hier Teil 2. Weiter heißt es dort:„1936 werden die EDEKA-Kaufleute auf dem Verbandstag in Leipzig aufgerufen: ‚Benutzt den Ladentisch als Kanzel für die Aufklärungsarbeit und helfet dem Führer, das Vaterland vom Auslande unabhängig zu machen.‘ Die Verbandszeitschrift wird zum Sprachrohr der NS-Propaganda: Um ‚an dem Wiederaufbau der deutschen Volkswirtschaft mitzuhelfen, u. a. durch Bevorzugung deutscher Waren‘, empfiehlt die ‚handelsrundschau‘ den EDEKA-Kaufleuten im Mai 1933, in die Schaufenster ihrer Geschäfte Plakate mit der Aufschrift ‚Deutscher Boden! Deutscher Handel! Deutsche Kraft!‘ zu hängen.“
- Zitate angeführt ebenfalls in der Jubiläumschronik
- Das A als Aktiengesellschaft zu interpretieren trat irgendwann später hinzu. Diese Deutung des Akronyms EDEKA wurde auch in den Einheiten von Edeka verbreitet, ist aber nicht offiziell schriftlich belegbar, so wikipedia, Edeka
- Zu den LPG siehe oben Anm. 5.
- Dies und viele weitere Details zum Thema in: Jens Kuhlemann, Braune Kader. Ehemalige Nationalsozialisten in der Deutschen Wirtschaftskommission und der DDR-Regierung (1948-1957), Internetausgabe 2012, entsprechende Anweisungen dort auf S.45ff. Zum Primat der Wirtschaft S.10 und S.74. So gab es zur Entnazifizierung schon 1945 den ausdrücklichen Stalin-Befehl, „einfache NS-Mitglieder“ nicht anzurühren (S.14/15), was der rechtsfreien Willkürlichkeit vor Ort allerdings kaum Einhalt gebot.( z.B. S.50). Allgemein herrschte in Ost und West die Schwierigkeit, zumal auf die Schnelle alte durch neue Führungskräfte zu ersetzen, die auch über die notwendige Vernetzung zur Versorgung der Bevölkerung und organisatorische Erfahrung verfügten (S.78). Durch Flucht in den Westen wurde das Problem eher größer als kleiner (S.72). Die gelinde gesagt (ver)schleppende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik ist nochmal ein Kapitel für sich, das an dieser Stelle jeden Rahmen sprengen würde.
- Die hinter der von Stalin zum „Gesetz“ und Legitimationsfloskel degradierten „Dialektik von Basis und Überbau“ ziemlich umfassenden erkenntnistheoretischen Überlegungen stammen ursprünglich mit Bezugnahme auf Hegel von Karl Marx.
- zur LPG siehe nochmal Anm. 5
- Zur Quelle des Zitats siehe oben mit Anm. 8. Das „[!]“ von uns. Zu den historisch korrekten Bezeichnungen siehe den Anfang des 3. Abschnitts sowie 3.2. Offenbar geht bei der Entschlüsselung der Abkürzung „EDEKA“ sogar der schiefste und ideologisch fragwürdigste Rückgriff auf einen angeblichen Ursprungsnamen mit „d“ für „deutsch“ und dem „K“ im Namen als „Kolonialwarenhändler“ beim Berichterstatter und der Redaktion anstandslos durch.
- ebenda, siehe Anm. 8
- siehe oben, 3.1. Aus der Geschichte sowie Anm. 14.
- Zur personellen Kontinuität sei noch einmal auf das einschlägige Buch Braune Kader (siehe Anm. 26) verwiesen. Weiterführend zu dem rahmensprengenden Thema der vereinnahmenden Berufung der DDR auf die „antifaschistische Tradition“ siehe beispielhaft auch „Verordneter Antifaschismus und die Folgen“ in APuZ 9/1991. Eine eloquente Vergangenheitsbeschweigung war im übrigen auch in der (westdeutschen) Literaturszene verbreitet. Im bald eskalierenden Kalten Krieg, der Konkurrenz der Systeme, wurde dann jegliche Aufdeckung nationalsozialistischer Verbindungen – im eigenen Nest – schon deshalb vermieden, weil sie nur „Wasser auf die Mühlen“ des jeweiligen ideologischen Gegners bedeutet hätte. Also suchte man jeweils nur bei ihm nach „Vergangenheit“.
- „Ick bün all hier!“ („Ich bin schon da“) ruft der Igel zur Verzweiflung des Hasen bei ihrem Wettlauf wieder und wieder. Für Nicht-Norddeutsche hier der Inhalt der Geschichte vom Hasen und dem Igel aus dem norddeutschen Buxtehude, die zuerst in der Sammlung der Gebrüder Grimm aufgezeichnet wurde.
- 1951 erzielte das Edeka-Unternehmen in der BRD Umsätze von 629 Millionen DM, ein Jahr später bereits 727 Millionen. 1965 gab es 45.000 oft noch kleine Edeka-Geschäfte. Deren Zahl nahm dann zugunsten von großen Märkten ab. Nach der Umstrukturierung zur zentralen Aktiengesellschaft mit 12 Regionalgesellschaften erreichte Edeka 1977 einen Umsatz von 6,765 Mrd. DM. [Zahlen aus Wikipedia]
- EDEKABANK AG Hamburg (Redaktion), „Dokumentation der Geschichte der EDEKA Zentralorganisationen unter besonderer Berücksichtigung der EDEKABANK AG 1907 bis 2012“, vom 15. 02. 2021, Abschnitt 6.4.2.
- Dieser Edeka-Aufkleber aus Wittenberg von 1988 wurde ganz staatswirtschaftlich offiziell hergestellt im „VEB Technodrom Leipzig“.
- Chronik der Edeka Minden, Kapitel 5
- [dort in der Chronik im Folgetext.] Berichte über die verzweifelte Suche nach Ersatzteilen, zumindest für Privat-Autos, waren im übrigen in allen Jahrzehnten und überall in der DDR allgegenwärtig. Zu Lebensmittelmarken als Anzeichen und Mittel im Umgang mit Versorgungsmängeln sie oben, Anm. 18.
- „eGmbH“ bedeutet handelsrechtlich „eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftung (bzw. Haftpflicht)“. Dem gegenüber ist die Rechtsform der „GmbH“ (Gesellschaft mit beschränkter Haftung) eine Kapitalgesellschaft mit im Prinzip anonymen Kapital-Einlagen zwecks Gewinnbeteiligung.
- Edekabank, Geschichte der Edeka…a.a.O.
- Mit „Wende“ wird gemeinhin die Endphase der DDR bezeichnet, die, durch Bürgerproteste initiiert und durch oppositionelle Bürgerinitiativen geprägt, schließlich friedlich in allgemeine freie Volkskammer-Wahlen mündete (18. März 1990). Deren eindeutige Mehrheitsverhältnisse führten – mit einigem Zögern und Skepsis auf beiden Seiten, aber vor dem Hintergrund des faktischen Bankrotts der DDR – zur Währungsunion (1. Juli 1990) und zur deutschen Wiedervereinigung (3. Oktober 1990).
- So zitiert der ehemalige Vorstandssprecher Dirk Schlüter in der Chronik der Edeka Minden, Kapitel 5 einen damaligen Kollegen zur Pionierarbeit der EDEKA Minden-Hannover in der Wendezeit und ergänzt mit seinem nachfolgenden Kommentar
- Eine anschauliche Schilderungen findet sich in der Chronik „100 Jahre Edeka Minden“, Kapitel 5
- Alle Angaben in Chronik der Edeka Minden, Kapitel 5. Bei den Verkaufsangestellten war der Umbruch nicht immer frei von Angst. Illustrativ dazu eine kleine persönliche Beobachtung von ca 1992: Zwei Verkäuferinnen bei der Neugestaltung des Verkaufsgebäudes mit dem neuen Warenangebot an einem kleinen, noch freien Winkel im Raum: „… und hier können wir dann unsere Pausen machen“ – scheuer Rundumblick, dann halblaut – „aber das dürfen wir ja jetzt nicht mehr.“
- Zutreffender müsste man wohl eher von einer planlos umherirrenden, zentralbürokratischen Kombinatswirtschaft sprechen. So beschreibt der südafrikanische marxistische Wirtschaftswissenschaftler Hillel H. Ticktin, der lange Jahre in der Sowjetunion verbrachte, die sowjetische Gesellschaft kritisch pointiert als „Planlose Wirtschaft“ [Hillel Ticktin u.a., Planlose Wirtschaft. Zum Charakter der sowjetischen Gesellschaft, Hamburg (Junius) 1981]. In Polen kritisierten Insider der Partei schon relativ früh deren „sozialistische“ Ökonomie als „Monopolsozialismus“ [Jacek Kuroń/ Karol Modzelewski, Monopolsozialismus. Offener Brief an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1969]. Die Autoren spielten dann eine führende Rolle in der oppositionellen Solidarność-Bewegung von 1980/1981. Deren Hauptforderung waren freie Gewerkschaften, die sie zeitweilig sogar durchsetzte. Eine andere Forderung erwies sich als unerfüllbar: realistische, ungefälschte Plan- und Ist-Zahlen der Wirtschaft. Die gab es schlicht nicht. In der DDR kritisierte Rudolf Bahro 1977 den „Realsozialismus“, weil er durch seine Bürokratie und deren Strukturen beherrscht sei [Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, EVA 1977]. Der Autor war zuvor über viele Jahre ein hoher Funktionär in Schlüsselpositionen der DDR-Industrie gewesen. Als Insider konnte er genau beschreiben, wie es lief und was warum nicht funktionierte. Von der SED wurde diese Kritik natürlich nicht aufgenommen. Sein Buch war verboten und kursierte als Dünndruck mit Tarneinband in oppositionellen Kreisen der DDR. Alle drei Insider-Kritiken machen auch deutlich, dass man von einer rationalen, demokratisch-sozialistischen Planwirtschaft im Marx’schen Sinne in jenen realsozialistischen Ländern nicht sprechen könne. Vielen Historikern gilt im nachhinein der revolutionäre Aufstand der Solidarność in Polen als vorbildlich demokratisch und als Anfang vom Ende der realsozialistischen Herrschaft in Europa. In der DDR hielt die bürokratische Führung um Erich Honecker hingegen bis zuletzt an dem Glauben fest, dass die Herrschaft ihres „Sozialismus“ eine unaufhaltsame, historische Naturgesetzlichkeit sei.
- siehe exemplarisch die Literatur in der vorangegangenen Anmerkung. Ein brauchbarer Überblick über die (offiziellere) politische Geschichte der DDR findet sich bei bpb. [Wilhelm Bleek, Die Geschichte der DDR, 2009]
- Es gibt zu dieser Preispolitik allerdings noch ein anderes Narrativ, später verbreitet von Honeckers „Ziehsohn“ Egon Krenz, dessen Angaben aber auch nicht durchweg belastbar waren: Demnach soll Honecker beim Thema Lebensmittelpreise im kleinen Kreis einmal warnend darauf hingewiesen haben, dass der „17. Juni“ 1953 initial durch eine Erhöhung der Marmeladenpreise ausgelöst worden sei [Der Spiegel Nr. 31/ 25.07.2025: Wolf unter Wölfen]. Der „17. Juni“ 1953 war der Beginn einer mehrtägigen Welle von Streiks, Demonstrationen und Aufständen, die schließlich mit sowjetischen Panzern niedergeschlagen werden musste. Die seriösen Historiker sehen den Anlass und „Zündfunken“ für diese Unruhen vom „17. Juni“ allerdings eher in einer (weiteren) Erhöhung der Arbeitsnorm (bzw. entsprechenden Prämienkürzungen), namentlich für die Bauarbeiter im Prestige-Projekt des Stalinallee-Viertels. Sie löste eine Demonstration durch Berlin aus, die schnell von allen Seiten Zulauf erhielt. Der Hintergrund für die umstrittene Anhebung der Produktionsnormen in Industrie und Bauwirtschaft war die Verschärfung der wirtschaftlichen Lage im Zuge des eskalierenden Kalten Krieges. Hinzu kam der Tod Stalins im März 1953 nach einem nächtlichen Gelage: Durch einen Machtwechsel im großen Bruderland erhofften sich viele – bei aller offiziöser und autoritätsbedürftiger Trauer – insgeheim Lockerung oder gar die Chance zu einer Humanisierung des Sozialismus. Die Parolen des Aufstands beinhalteten neben der Rücknahme der Normerhöhungen bald „freie und geheime Wahlen“.[Benno Sarel, Arbeiter gegen den „Kommunismus“, Paris 1958, deutsch 1975, S. 142f.] Das Körnchen Wahrheit an den Honecker-Narrativen zu den Lebensmittelpreisen dürfte darin liegen, dass die DDR-Führung bis zuletzt versuchte, das Volk durch (möglichst billigen) Konsum ruhig und bei Laune zu halten – aber eben auch ohne jede offene, öffentliche Diskussion über Pläne und alternative Möglichkeiten und damit ohne jegliche Legitimation für ihre einsamen Entscheidungen. Diese Kombination von Selbstherrlichkeit und Unmündigkeit ist bekanntlich gescheitert.
