Die Gegenteile zu den Sieben Todsünden – wie heißen sie wörtlich?

Die katholische Kirche hat in ihrer Geschichte Sieben Todsünden festgelegt und ihnen Sieben Tugenden gegenübergestellt. Davon gibt es aber mehrere historisch entstandene Fassungen. Von daher ist die User-Frage1 sehr berechtigt. Sie verrät Kenntnis der Materie. Schon die Sieben Todsünden sind nicht ursprünglich gegeben, etwa durch die Bibel, sondern Produkt einer lang andauernden Auswahl. Die ihnen gegenübergestellten Sieben Tugenden sind noch viel weniger eindeutig. Es gibt sie im Prinzip in zwei Varianten: Erstens als sieben jeweils direkte, wörtliche Gegenteile zu den definierten sieben Todsünden. Zweitens als Zusammenstellung von sieben Haupttugenden, die dann im Ganzen den sieben Todsünden gegenübergestellt werden.
Dieser Artikel betrachtet und erläutert nacheinander beide Varianten der Sieben Tugenden. Deren unterschiedliche Herkunft und Entwicklung erklärt ihre jeweiligen, unterschiedlichen Bedeutungen. Beginnen wir bei den Sieben Todsünden, aus denen sich ihre direkten Gegenteile ergeben. Daraufhin gehen wir die wörtlichen Formulierungen der Gegenteile zu den Sieben Todsünden der Reihe nach durch. Anschließend nehmen wir uns die andere Variante der Sieben Haupttugenden als Gesamtpaket vor und klären deren Herkunft und die Unterschiede.

Die Sieben Todsünden

Bedeutung und Deutung der Todsünden

Die Heimat der sieben Todsünden und ihrer Gegenteile ist die christliche Kirche. In der Bibel selbst aber gibt es keine konkrete Definition der Sieben Todsünden. Dennoch ist die Sünde sowohl in der römisch-katholischen Lehre als auch in den reformatorischen Kirchen das Hauptübel, von dem der Mensch erlöst werden muss.2 Im Gegensatz zu „lässlichen Sünden“3 sind Todsünden definiert durch die Schwere der Tat sowie durch bewusstes und vorsätzliches Handeln.4 Einige (kleinere) Sünden werden durch das Opfer Jesu ausgeglichen,5 andere aber können so nicht vergeben werden.6 Eine solche Sünde heißt Todsünde, weil sie zum ewigen Tod in der Hölle führt, falls sie nicht angemessen bereut wird.7 Das aber – die Schwere einer Sünde und die Angemessenheit der Reue, also die Vergebung – kann im Katholizismus nur ein Priester feststellen. Dazu ist eine minutiöse Beschreibung der Sünde in der Beichte notwendig, damit der geistliche Richter ein rechtes Urteil über Sünden- und und Strafmaß aussprechen kann. Anders herum: Ohne Unterwerfung unter die Kirche und detaillierte Beichte gibt es keine Erlösung von der ewigen Hölle.8

Bericht und Beurteilung der Sünde im Beichtstuhl

Das Fatale dabei: Es gibt keine Gewissheit oder klare Abgrenzung. Prinzipiell kann jede Sünde eine Todsünde sein. Die Definitionsmacht hat die Kirche, genauer: der einzelne Amtsträger oder Beichtvater. Im Laufe der Zeit gab es da auch insgesamt einige merkwürdige Varianten. So galt es beispielsweise noch bis Mitte der 1960er Jahre9 als Todsünde, eine protestantische Kirche zu besuchen, eine protestantische Bibel zu besitzen oder am Freitag Fleisch zu essen. Dafür haben heutzutage wohl nur noch extrem extremistische Islamisten Verständnis.

Damit wir endlich zum Thema kommen, nämlich den Gegenteilen zu den sieben Todsünden, machen wir bei all diesen Ungewissheiten und Merkwürdigkeiten mal einen Haken und gehen einfach zu der geschichtlich verbreitetsten Zusammenstellung der Sieben Todsünden über.

Die verbreitete Fassung der Sieben Todsünden

Biblische und kirchliche Vorläufer

Im Alten Testament der Bibel gibt es – ohne Bezug auf den Begriff Todsünde – bei den Sprüchen des Königs Salomon10 eine Auflistung von Sünden als Sieben Dinge, die dem Herrn ein Greuel sind:

  • Ein stolzer Blick,
  • eine lügende Zunge,
  • Hände, die unschuldiges Blut vergießen,
  • Ein Herz, das böse Pläne schmiedet,
  • die schnell in das Böse rennen,
  • Ein falscher Zeuge, der Lügen erzählt,
  • und einer, der Unstimmigkeiten unter Brüdern sät.11

Ergänzend gibt es im Neuen Testament in einem Brief des nachchristlichen Missionars Paulus12 eine offene, recht bunte Liste von verwerflichen „Taten des Fleisches“: Unmoral, Unreinheit, Sinnlichkeit, Götzendienst, Zauberei, Feindseligkeiten, Streitigkeiten, Streitigkeiten, Eifersucht, Wutausbrüche, Streitigkeiten, Meinungsverschiedenheiten, Fraktionen, Neid, Trunkenheit, Gelage und Ähnliches…13. Die im Zitat mehrfache Wiederholung von (übersetzten) „Streitigkeiten“ könnte auf die damalige historische Situation hinweisen: Als Auslands-Missionar hatte Paulus es mit einer verstreuten, großen Zahl von neuen und schon vorhanden christlichen Gruppen und Gemeinden zu tun. Die lebten in verschiedenen Ländern, hatten sehr unterschiedliche kulturelle Traditionen und widerstreitende Glaubensauffassungen.

Relativ losgelöst von diesen biblischen Vorgaben entwickelte dann der griechisch-ägyptische Mönch und Theologe Evagrius von Pontus (346 – 399/400 n. Chr.) eine Liste von acht bösen Gedanken oder Leidenschaften, hauptsächlich wohl für den Hausgebrauch, also das klösterliche Leben. Die ordnete er nach ihrer Schwere, beginnend mit der größten Ich-Bezogenheit, nämlich dem „Stolz“ und endend mit der „Unkeuschheit“.14 Die griff sein Schüler Johannes Cassanius (4./5. Jh. n. Chr.) auf und reduzierte sie auf sieben Sünden.

Weltgericht und Hölle

Die Sieben Todsünden des Papstes Gregor

Papst Gregor I. (590 – 604)15 wiederum nahm die Liste von Cassatius auf und änderte sie ab. Diese Zusammenstellung verkündete der Papst als die „Sieben Todsünden“ und verbreitete sie in der Kirche und damit auch außerhalb der Klöster. Diese Sünden-Fassung ist bis heute die verbreitetste und „allgemeingültige“, auch wenn damit, wie gezeigt, das Thema Todsünde keineswegs erschöpfend und eindeutig definiert ist. Seine Liste16 – ursprünglich in der Kirchensprache Latein – lautet, je nach Überlieferung und Übersetzung,17 in heutzutage gebräuchlicher Fassung18 wie folgt:

  • 1 Stolz / Hochmut (Superbia)
  • 2 Geiz / Habsucht (Avaritia)
  • 3 Unkeuschheit/ Wollust (Luxuria)
  • 4 Zorn (Ira)
  • 5 Unmäßigkeit/ Völlerei (Gula)
  • 6 Neid (Invidia)
  • 7 Trägheit/ Überdruss (Acedia)

In Abweichung zu seinen Vorgängern fasste Gregor „Ruhmsucht“ und „Stolz“ zu einer Todsünde zusammen. Gregors Sünde der „Traurigkeit“ wurde im 7. Jahrhundert durch „Faulheit“/“Trägheit“ ersetzt. Dazu später mehr.

Schon auf den ersten Blick kann man sehen, dass es sich hier vorwiegend um innere Einstellungen handelt, die sich gegebenenfalls in sündigen Handlungen oder Gedanken ausdrücken (können). Das ist kein Zufall. Denn die kirchliche, namentlich katholische Sündenlehre zielt weniger auf Wohlverhalten ab als auf die Reinigung der Seele. Diese wiederum findet statt in der kirchlich angeleiteten Suche nach innerster Reue als Voraussetzung für Vergebung.19

Definitionsschwierigkeiten

Die ursprünglich lateinischen Bezeichnungen kann man durchaus unterschiedlich übersetzen und deuten. Dass diese Begriffe je nach geschichtlicher Zeit und von Ort zu Ort verschieden ausgelegt wurden und werden, macht eine Orientierung für Kirchenkongresse und den einzelnen Menschen auch nicht einfacher.20 Selbst wenn man also die oben genannten Todsünden und ihre aktuelle Fassung als allgemeingültig akzeptiert, geht ihre Unbestimmtheit auch auf ihre Gegenteile über, gefasst als Tugenden.

Die Sieben Todsünden in der Kathedrale von Toledo: Stolz, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Überdruss

Die Sieben Tugenden und ihre Varianten

Besonders in der Entwicklung der katholischen Lehre gibt es eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Tugenden als Gegenteil zu den Sünden. Ist es schon problematisch genug, aus all den Verboten und Sünden einen allgemeingültigen 7-Punkte-Katalog herauszustellen, so gilt dies um so mehr für die Tugenden. Während die Sünden sozusagen eine Spezialität des christlichen Glaubens sind, finden sich Tugenden faktisch in allen Weltanschauungen. Auch die christliche Kirche fand für ihre Tugendlehre schon bei ihrer Entstehung eine gute Grundlage vor. Es gab sie ausgearbeitet in der antiken griechischen Klassik, namentlich ihrer idealistischen Philosophie, und ihren griechischen und römischen Nachfolgern.

Und es gab in der christlichen Tugendlehre schon früh auch Ansätze, den Sieben Todsünden ebenso definierte Sieben Tugenden gegenüberzustellen. Die führten jedoch bis heute zu keinem eindeutigen Ergebnis. Letztlich konkurrieren hier verschiedene Auffassungen von „Haupttugenden“. Ihnen gemeinsam ist das Bestreben, den griffigen negativen „Sieben“ Todsünden oder Hauptsünden ein positives Gegengewicht gegenüber zu stellen.

Die Sieben Tugenden als direkte Gegenbegriffe

In der christlichen Theologie werden solche Sieben Tugenden vorwiegend übergreifend zusammengestellt, d.h. nicht durch direkt wörtliche Gegenbegriffe zu den Sieben Todsünden. Wir werden darauf im nächsten Abschnitt (unter 2.2.) zurückkommen. Aber es gibt auch den Ansatz der direkten 1:1-Gegenüberstellung von Tugend zu Sünde in der katholischen Lehre:

„Die Laster lassen sich nach den Tugenden ordnen, deren Gegensatz sie sind, oder auch mit den Hauptsünden in Verbindung bringen, welche die christliche Erfahrung in Anlehnung an den hl. Johannes Cassian und den hl. Gregor d. Gr. [Vgl. mor. 31,45]21 unterschieden hat. Als Hauptsünden werden sie deshalb bezeichnet, weil sie weitere Sünden, weitere Laster erzeugen. Hauptsünden sind: Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, Trägheit oder Überdruß [acedia]“22 Es gibt demnach eine Ordnung von Sünden oder Lastern mit direkten Entsprechungen bzw. Gegensätzen in den Tugenden, wobei die Tugenden die Ordnung beider bestimmen. Diese wiederum ist gegeben durch die Ordnung der Sieben Todsünden nach Cassian/Gregor, wie sie oben dargestellt wurden.23

Solche direkten Punkt-für-Punkt-Gegenüberstellungen lassen sich also aus dem offiziellen Katechismus und den zugrunde liegenden historischen Schriften ableiten. Und sie finden sich auch in populären Darstellungen, vor allem überliefert in Bildern und Skulpturen. Zu einer Liste verdichtet, sehen diese Gegensatzpaare (samt ihrer lateinischen Grundbegriffe)24 dann so aus:

Die Gegenteil-Paare von Sünden und Tugenden

  • 1. Stolz / Hochmut (superbia) → Demut (humilitas)
  • 2. Geiz / Habsucht (avaritia) → Großzügigkeit (liberalitas)
  • 3. Wollust / Unkeuschheit (luxuria) → Keuschheit (castitas)
  • 4. Zorn (ira) → Geduld (patientia)
  • 5. Unmäßigkeit / Völlerei (gula) → Mäßigkeit (temperantia)
  • 6. Neid (invidia) → Wohlwollen (benevolentia)
  • 7. Trägheit / Überdruss (acedia) → Fleiß (industria)

Die sieben Sünden und ihre sieben Gegentugenden im einzelnen

Zu allen sieben Sünden lassen sich also tatsächlich entsprechende Tugenden in der katholischen Lehre vorfinden.25 Sie stellen dort einen wichtigen Teil der Haupttugenden dar. Allerdings bilden sie keineswegs umfassend alle Haupttugenden der kirchlichen Lehre ab. Auf der anderen Seite aber umfassen Gregors Sieben Todsünden auch bei weitem nicht alle möglichen Todsünden im katholischen Glauben. Zu Recht verweisen viele Theologen darauf, dass es schließlich auch noch die 10 Gebote gebe. Die könnten eigentlich für die Bestimmung von möglichen Hauptsünden auch nicht ganz unwichtig sein.26 Und die laut Katechismus allertödlichste, absolut unverzeihliche Todsünde ist nicht Teil dieses Siebener-Katalogs, nämlich die Abkehr von Gott, also der Unglaube, etwa gar als Austritt aus der Kirche.27

Die gelisteten sieben Sünden und auch die Tugenden bleiben recht allgemein. Überwiegend bezeichnen sie eher Einstellungen oder Haltungen, aus denen eventuell gute oder schlechte Taten hervorgehen können. Das ist bei den Sünden störender als bei den Tugenden: Schließlich möchte man doch genauer wissen, ob und wofür man in die Hölle kommt, während die Tugenden auch als allgemeine Vorgaben prinzipiell nützlich sein könnten. Auch wenn man nicht wie ein Pfadfinder jeden Tag eine gute Tat in ihrem Sinne vollbringen will.

Die Gegensatzpaare helfen, die aufgelisteten Forderungen an den Gläubigen genauer einzugrenzen. Und es lohnt sich, die einzelnen Sünde-Tugend-Paare näher zu betrachten. Man kann sie auch im Hinblick auf ihre Tauglichkeit als Orientierungen im Leben überprüfen. Allerdings weist auch die Kirche zu Recht darauf hin, dass in Sachen Sünde und Tugend alles mit allem in Zusammenhang steht. Schon deshalb bleiben die folgenden Betrachtungen punktuell – und selbstverständlich höchst subjektiv, vielleicht als Anregungen zur eigenen Meinungsbildung.

Die Warnung vor Überheblichkeit ist vermutlich so alt wie die Philosophie. Als Hybris spielte sie in der Antike eine zentrale Rolle in Philosophie und Kultur.28 Sie meint dort wesentlich, in seinem Handeln keine Rücksicht auf göttliche oder menschliche Regelungen zu nehmen.29 Die gegenteilige Tugend ist dort eher vernünftige Selbstbescheidenheit, die einem hilft, jeweils angemessene Ziele und Mittel zu finden. Überheblichkeit in Vorgehen und Zielen führt oft in die Katastrophe, so die Lehre. Hier, in der christlichen Lehre aber ist die Konstellation anders: Maßgebend ist nicht die realistische Selbsteinschätzung und vorausschauende Katastrophenvermeidung, sondern die unbestimmte Angst vor einer jenseitigen Hölle. Die zugehörige Tugend ist hier die Demut, die in der lateinischen Bezeichnung humilitas die Erniedrigung als Mitbedeutung hat. Das trägt zur Lösung schwieriger Situationen wenig bei, auch nicht zu angemessenen Zielsetzungen des Handelns. Erziehung zur unbedingten Demut und Unterwerfung aber ist für Herrschaft von Religionen allgegenwärtig. Sie hat jahrhundertelang jedoch auch zur Fortsetzung von Macht und Unterdrückung beigetragen.30

Nicht zufällig steht die Hochmut/Demut an erster Stelle der Aufzählung. Von Anfang an erfolgte, wie gesagt, die Reihenfolge der Sieben Todsünden nach der Ichbezogenheit der Sünden. Hochmut/ Demut ist am direktesten auf das allgemeine Ziel der kirchlichen Tugenden ausgerichtet, von der Ichbezogenheit zur Gottbezogenheit zu gelangen.31

Hier ist die weiter gefasste Tugend der Großzügigkeit als Orientierung vielleicht hilfreicher als die sehr allgemeine Formulierung der Sünde. Denn wo beginnt Habsucht eine Todsünde zu sein? Gibt es eine Freude an Besitz oder Erwerb jenseits der Todsünde? Radikal könnte man eine Warnung vor Habsucht (jenseits der Höllendrohung) allerdings auch als Kritik an einer Gesellschaft verstehen, in der das Streben nach Geld, Wohlstand, Aufstieg und Gewinn eine zentrale Triebkraft ist.

Die Forderung der Großzügigkeit ist als solche sicherlich nicht falsch. Aber als Gegentugend lenkt sie von dieser Frage nach der konkreten Bedeutung der Warnung eher ab. Und bei der Zielsetzung einer nachhaltigen, ressourcenschonenden Lebensweise etwa kann Großzügigkeit keine wirkliche Orientierung bieten (schon gar nicht die Angst vor der Hölle bei schwäbischer Sparsamkeit). Großzügigkeit als Bestandteil solidarischen Handelns allerdings könnte vielleicht zu einer gemeinschaftlichen Lebensweise beitragen, die die Natur oder auch Gottes Schöpfung bewahrte. Aber davon ist in dem Gegensatzpaar und seinen Erläuterungen nicht die Rede.

Was ist genau mit Unkeuschheit bzw. Keuschheit gemeint? Darauf verwendet das Kompendium des Katechismus bei der Erläuterung von Sünden und Tugenden weitaus am meisten Text.32 Dabei erweist sich letztlich die Gegen-Tugend, die Keuschheit als so rigoros wie befürchtet und wenig hilfreich. Keuschheit erfordere „das Erlernen der Selbstbeherrschung.“ Dazu bedürfe „es einer ganzheitlichen, ständigen Erziehung“.33 Als Mittel dazu werden u.a. empfohlen “die Hilfe der Sakramente [also von Taufe, Firmung, Eucharistie, usw., d.V.]34, das Gebet, …, die Praxis einer der jeweiligen Situation angepassten Askese“.35 Für katholisch geweihte Priester gilt seit dem Mittelalter (1073) trotz aller Folgeerscheinungen ohnehin weiter das Zölibat: Keine Ehe, kein Sex, also absolute Askese. Aber was muss man als Nicht-Priester unter jener „der jeweiligen Situation angepassten Askese“ verstehen?

Meint Unkeuschheit als Nichtmäßigung heutzutage vielleicht nur noch z.B. das bis vor kurzem beim Leistungssport geltende Verbot des Beischlafs vor dem Wettkampf, weil das die Leistungsfähigkeit mindere?36 Oder ist Unkeuschheit als Nichtmäßigung alles, was über eheliche Nachwuchszeugung hinausgeht? Das hat man lange vertreten. Und es klingt auch heute im kirchlichen Katechismus nicht wirklich anders. Der gebietet „eheliche Keuschheit“ (was immer das sei)37 für Verheiratete und ausnahmslose Enthaltsamkeit für Unverheiratete.38 Und bis heute bildet das Gebot der Keuschheit den Ausgangspunkt zur Diskriminierung aller andersartigen Formen von Sexualität als „Todsünde“.39

Da auch Sexualität gottgegeben ist,40 ist hier schlechtes Gewissen bzw. Höllenangst, beginnend bei der Masturbation,41 so gut wie unvermeidlich. Die Gegen-Tugend bietet aus der Erniedrigung der Sündhaftigkeit keinen wirklichen Ausweg. Die Keuschheits-Forderung bestärkt sogar, weil unerfüllbar, die ängstlich-demütige Unterwerfung. Die kirchlichen Vorgaben bzw. empfohlenen Mittel – Glaube, Gebet, Sakramente, von ihr definierte Askese42 – verweisen auf sie selbst als Sündenlöser. Die Kirche spielt hier noch deutlicher als sonst die Doppelrolle, zugleich Urheber des Gewissensdilemmas als auch Erlöser daraus zu sein.43 Namentlich die katholische Kirche und ihre faktisch unerfüllbaren Maßgaben von Sünde und Tugend tragen nichts bei zur der Frage nach einer glücklichen und sinnhaften Lebensführung. Sie bieten keine Orientierung zu der Frage, wie etwa Paare ihre Liebesbeziehung erfüllend gestalten können, wie sie ihre Sexualität vertrauens- und respektvoll ausleben oder gar Wonne44 empfinden können.

Auf Unkeuschheit folgt Verdammnis – für Laien (links) und für Priester bzw. Mönche (rechts)

Der Zorn ist noch am ehesten in Form von konkreten Handlungen bzw. Äußerungen zu erfassen. Zugleich aber ist er inhaltlich sehr unbestimmt und daher die Frage, wann man damit eine Todsünde begeht. Schließlich begegnet uns in der Bibel, namentlich im Alten Testament, allenthalben der göttliche Zorn. Der überträgt sich auch – theologisch legitimiert – auf Menschen, etwa gegen (vermeintliche) Feinde oder falsches Handeln, dem man in Wort und Tat entgegentritt, schlimmstenfalls im „gerechten“ Krieg gegen „Ungläubige“. Und hier soll angeblich traditionell auch der „väterliche Zorn“ der Erziehungsberechtigten seinen Platz haben. Zorn wäre demnach inhaltlich zu bestimmen, bevor er gar zur Todsünde erklärt wird.

Die Gegen-Tugend Geduld ist in vielen Lebenslagen nützlich. Aber auch hier ist unklar, wann sie wie in Anwendung zu bringen ist. In einer demokratischen Gesellschaft mit verschiedenen Standpunkten und auch in internationalen Beziehungen gilt es, Konflikte zu lösen statt sie zu kultivieren. Zorn ist hier nicht hilfreich, Geduld hingegen schon, aber mehr noch Toleranz, die Bereitschaft, andere Standpunkte nachzuvollziehen und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Das aber ist historisch auch nicht gerade die Stärke der in Glaubensfragen und Kriegen eher zornig auftretenden katholischen Kirche gewesen.

Die Orientierung, maßvoll in Wünschen, Zielen und Lebensführung zu sein, bildet eine Grundlage der klassischen griechischen Philosophie.45 Das aber ist hier weniger gemeint, weil Wünsche und Ziele durch die Religion und das Streben nach ewigem Leben vorgegeben sind. Eine Glückseligkeit im Diesseits durch realistisch maßvolles Wünschen und Handeln ist da nicht enthalten.

Das Problem wurde im übrigen schon beim Thema „Habsucht“ angesprochen: Wo beginnt in unserer Konsum- und Wachstumsgesellschaft die Unmäßigkeit und wird gar zur „Todsünde“? Ist es der Genuss einer Kugel Eis nach dem sättigenden Essen? Ist die unbestimmte Forderung zur Mäßigung der ständig anwesende Spielverderber der Lebenslust? Darf es Genuss über Askese hinaus überhaupt geben? Auch hier ist die Unbestimmtheit geeignet, Demut zu erzeugen, nämlich durch das ständig schlechte Gewissen, jetzt vielleicht doch gerade sündig zu sein.

Der Neid als nagendes Gefühl ist schwer zu handhaben. Und auch der Volksmund warnt vor seiner zerstörerischen Kraft für das eigene Glück. Aber ab wann ist er eine Todsünde? Oft ist Neid auch ein Ansporn, etwa im Wettkampf oder im Beruf besser zu sein als ein Mitbewerber. Oder auch sich einen Milliardär oder Glückspilz zum Vorbild zu nehmen. Hier hilft die Gegen-Tugend des Wohlwollens bei der Eingrenzung. Im katholischen Katechismus bezieht sich das geforderte Wohlwollen auch an anderer Stelle allerdings weniger darauf, Ärmeren, z.B. Flüchtlingen, ihr Weniges an materieller Versorgung zu gönnen, sondern mehr betont auf die Achtung fremden Eigentums.46 Mit Barmherzigkeit hat das Wohlwollen in dieser Gegensatz-Koppelung nichts zu tun.

An anderer Stelle des Katechismus wird Neid als eine Form der Traurigkeit beschrieben.47 Als solche ist der Neid weniger etwa mit Großherzigkeit oder Empathie zu bekämpfen, sondern das Wohlwollen findet seine Basis in der Demut: „Der Neid stellt eine der Formen des Trübsinns dar und somit eine Zurückweisung der Liebe. Der Getaufte soll durch das Wohlwollen gegen ihn ankämpfen. Neid entspringt oft dem Stolz; der Getaufte bemüht sich, in Demut zu leben.“48 Selbst hier, wo es recht weltlich um Eigentum geht, geht es im Katechismus nicht um die Mitmenschen. Der ichbezogenen Missgunst stehen dort nicht gute Taten am Nächsten gegenüber, gar das Teilen von Reichtum. Sondern die Tugend-Orientierung wird hier umgelenkt in jenseitige Gottbezogenheit. Ein Nebeneffekt: Im Diesseits und seiner vielleicht doch ungerechten Verteilung von Gütern und Chancen kann damit alles bleiben, wie es ist. Etwaige Ungerechtigkeit ist, wie das Zitat ausführt, vielmehr demütig zu akzeptieren in Gewissheit der göttlichen Liebe. Zweifel an der Verteilung, Sozialrebellion gar, wäre demnach gleichbedeutend mit der hochmütigen Zurückweisung jener göttlichen Liebe.

Beispielhaft ist, wie hier verschiedene Sünden und Tugenden, sich gegenseitig konkretisierend, miteinander verknüpft werden, neudeutsch: geframt.

Der Wort-Herkunft nach handelt es sich bei „acedia“49 um Sorglosigkeit im Sinne von „keine Sorge tragen“, „sich nicht kümmern“. Im katholischen Katechismus ist das dann in einer kühnen Verkettung gleichgesetzt mit geistiger Trägheit, resultierend in Überdruss.50 Aus dieser Ansicht stammt auch die ursprüngliche Bezeichnung dieser Todsünde als „Traurigkeit“. Die im Katechismus beschriebenen Erscheinungsformen dieser Sünde gleichen nicht zufällig denen, die die Psychologie den Depressionen zuordnet. Diese wiederum beschäftigen z.B. als „Burnout“ zunehmend die Kranken- und Rentenkassen.51 Wie dem auch sei, jeder Psychologe weiß, dass einer Depression mit der Aufforderung, fleißig zu sein, nicht beizukommen ist.

Die Verwandlung bzw. Verengung der acedia/ Sorglosigkeit zu „Trägheit“ mit der Komplementärtugend Fleiß ist merkwürdig und bedeutsam. Wenn man ganz radikal wäre, könnte man sie verstehen als Anpassung an die Ideologie unserer Erwerbsgesellschaft. In dieser wird auch periodisch populistisch die Forderung nach härteren Regeln und Bestrafung für all die „Arbeitsunwilligen“ und „Drückeberger“ laut. Ein „Recht auf Faulheit“52 gar – etwa das Bestreben, auch durch technischen Fortschritt Freiraum zum kreativen Sinnieren (etwa über Fragen des Glaubens und der Tugenden) zu schaffen, oder auch einfach Zeit zum Genuss der gottgeschaffenen Natur zu haben – ist allenthalben verfemt. Es gilt als Anarchie ebenso wie ein Hippie-Dasein mit Minimalkonsum. Jesus hingegen hätte vielleicht Verständnis für diese Art von Sorglosigkeit: „Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet. .. Sehet die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht …; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?“53

Das Gegensatzpaar Trägheit/ Fleiß trägt hingegen in seiner offiziellen Katechismus-Interpretation unausgesprochen die (unbewiesene) Auffassung mit, dass ohne Fleiß und produktive Einordnung ein sinnvolles gesellschaftliches Zusammenleben nicht möglich sei. Die Forderung nach Fleiß als Heilmittel gegen Trägheit ist geeignet, eine als wesentlich erkannte Ursache von Depressionen – nämlich zunehmende und fremdbestimmte Verdichtung und Entgrenzung von Arbeit bis zur Erschöpfung – sogar noch zu vergrößern.54 Rein theologisch erscheint es jedenfalls keineswegs zwingend, dass die Kirche mit diesem Gegensatzpaar vielleicht dazu beiträgt, dass ihre Schutzbefohlenen ihre Erfüllung in maßloser Arbeit suchen – bis zur Erschöpfung oder sogar bis zu sündig „träger“ Depression.

Zwischenbilanz

Auch wenn man nicht an Gott und die Hölle glaubt55 und die Kirche nicht für unfehlbar hält:56 Es zeigt sich, dass diese gelisteten Sünden/Tugenden als Orientierung im täglichen Leben nur sehr bedingt nützlich sind. Auch in ihren Gegen-Tugenden bleiben sie dem kirchlichen Bild des Menschen verhaftet. Er soll vordringlich in Demut gegenüber Gott an der Überwindung seiner vorgegebenen Sündhaftigkeit arbeiten. In den Lehren der römisch-katholischen wie auch der reformatorischen Kirchen ist, wie eingangs beschrieben, die Sünde das Hauptübel, von dem der Mensch für sein jenseitiges Leben erlöst werden muss.57 Das aber ist ein anderes Ziel als etwa das der klassischen Tugendlehre, nämlich ein glückliches Leben zu führen.

Die Sieben Kardinal- oder Haupttugenden

In der Geschichte der Kirchenlehre wurden schon seit der Spätantike Sieben Kardinal- oder Haupttugenden in verschiedenen Fassungen zusammengestellt.58 Während die Sieben Todsünden bereits im 6. Jahrhundert eher im klösterlichen und dann im innerkirchlichen Rahmen entwickelt und verbreitet wurden,59 bekamen die Sieben Kardinaltugenden ihre verbreitete und heute gültige Fassung erst durch Thomas von Aquin. Das war ca. 600 Jahre später, gegen Ende des Hochmittelalters, als das Christentum mit seiner Lehre zur Grundlage der Herrschaft von Kaisern und Königen geworden war.60

Diese Sieben Kardinaltugenden wurden und werden dann häufig den Sieben Todsünden gegenübergestellt. Sie bestehen aber keineswegs einfach aus Gegenteilen zu den Todsünden. Und sie haben überwiegend auch gar keinen christlich-religiösen Ursprung. Die Sieben Kardinaltugenden sind vielmehr nach den Worten der Kirche aus vier so genannten „weltlichen“ oder „natürlichen“ Tugenden einerseits und drei speziell „christlichen“ oder „göttlichen“ Tugenden andererseits zusammengesetzt.

Die vier „weltlichen“ Haupttugenden

Als die christliche Kirche in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ihre Lehre ausarbeitete, fand sie bereits eine traditionsreiche Tugendlehre vor, nämlich in der Philosophie des klassischen Griechenlands, damals das kulturelle Zentrum des Abendlands. Hier war bereits im 5. Jh. vor Chr. ein Katalog von vier Haupttugenden verbreitet.

Die griechischen Ursprünge

Ein tugendhafter Mensch war damals, wie schon vorklassisch von Aischylos zusammengefasst61

  • sopfhron/ σώφρων62 = verständig/ klug besonnen
  • dikaios/ δῐ́καιος = gerecht/ rechtschaffen
  • eusebes/ εὐσεβής = fromm/ im Einklang mit dem Göttlichen und
  • agathos/ ἀγαθός = tüchtig/ vortrefflich

Dabei ist „agathos / ἀγαθός“ ein sehr umfassender Begriff von „gut“ mit starkem Bezug auf die inneren Werte und die Tüchtigkeit eines Menschen. Er bildet zusammen mit dem (eher sichtbaren, körperlichen) Schönen und Guten „kalos / καλός“ das umfassende menschliche Ideal der Antike: der „καλοκἀγαθία/ kalokagathía“, was soviel meint wie die ideale allseitige körperliche und geistige Vortrefflichkeit.

Die Frömmigkeit,“eusebia/ εὐσέβεια“, steht hier der „Gottlosigkeit“, „asebeia/ ἀσέβεια“, gegenüber. Sie bezog sich primär darauf, die griechischen Götter, die bekanntlich ziemlich unberechenbar und launisch waren, nicht zu provozieren und vorsorglich durch Opfer zu besänftigen.63 Weil ein Verstoß gegen diese Maßgabe möglicherweise einen göttlichen Zorn auf die ganze Stadt herbeiführten könnte, konnte „Gottlosigkeit“ als Missachtung der Götter sogar bestraft werden.64 Mit einer tiefen seelischen, unbedingten Bindung oder gar Hingabe an einen Gott hat diese Art von Frömmigkeit nichts zu tun.

Ziel dieser klassischen Tugenden war, dass der Mensch (im Diesseits) ein möglichst glückliches Leben führen solle. Dabei war (verbreitet in der Theorie) allerdings das Glück des Einzelnen durch die Wohlfahrt des Stadtstaates, dem er angehörte, und die Harmonie mit der kosmischen Ordnung bedingt.

Der idealistische Philosoph Platon65 übernahm dann in der griechischen Klassik diese Viererliste, änderte sie aber zeitgemäß im Rahmen und im Sinne seiner Staatslehre ab.

Platon behielt die
Besonnenheit/ Verständigkeit (σωφροσύνηsophrosýne) bei und die
Gerechtigkeit (δῐκαιοσῠ́νη/ dikayosyne),
aber er engte den allgemeinen, übergreifenden Begriff von Tüchtigkeit (ἀγαθόν/ agathón bzw. ἀγαθοσῠ́νη /agathosyne) ein auf die staatlich vorrangige
Tapferkeit (ἀνδρεῖα/ andreia).66
Die „Frömmigkeit“ (εὐσέβεια/ eusebeia) tritt im idealen, philosophiegeleiteten Stadtstaat zurück gegenüber dem weltlichen Gesetzeswerk. Sie wird daher bei Platon ersetzt durch
Klugheit (φρόνησις/ phronesis) oder, je nach Person, gar Weisheit (σοφία/ sophia). Ob Klugheit oder Weisheit angebracht sei, richtete sich für Platon nach dem jeweiligen philosophischen und damit sozialen Status der Person in seiner hierarchischen Ideal-Gesellschaft.67

Übernahme durch die christliche Kirche

In dieser Form gingen die vier klassischen Tugenden mit einigen Varianten in die nachklassische Zeit und die Römerzeit über und wurden so mehr als eineinhalb Jahrtausende später durch die Kirche aufgegriffen, namentlich im Mittelalter durch den einflussreichen Theologen Thomas von Aquin. In Berufung auf ihn gelten bis heutzutage68 als offizielle Kardinaltugenden

  1. Klugheit
  2. Gerechtigkeit
  3. Tapferkeit
  4. Mäßigung

Auch wenn es sich hier gleichsam um den „weltlichen“ Teil der christlichen Kardinaltugenden handelt, wenn also die Frömmigkeit woanders verortet ist, verwundert die Auswahl doch ein wenig.

Da ist zum einen die ehedem umfassende Besonnenheit/ Verständigkeit zusammen mit der Weisheit nun eingeengt auf eher (zweck)rationale Klugheit69 und die eher negativ bestimmte Mäßigung. Das mag seine Erklärung darin finden, dass Verständigkeit für die Kirche nur als Verstehen des Glaubens oder im Glauben vorstellbar ist, nicht als umfassender Gebrauch des menschlichen Verstandes. Analog gibt es nun keine Resultate einer Besonnenheit im Sinne von Besinnung/ Nachdenken mehr. Sie wird bescheiden zur unbestimmten Mäßigung.

Auffälliger noch ist die Ersetzung der ursprünglich umfassenden Tüchtigkeit durch die doch recht militärisch zu deutende „Tapferkeit“.70 Betrachtet man die christliche Lehre, namentlich die Lehre Jesu, ist dies erstaunlich. Denn diese zeichnet sich geradezu aus durch die Forderung nach Friedfertigkeit, sogar durch eindeutige Aussagen gegen Waffengewalt.71 Betrachtet man hingegen die Geschichte christlich-königlicher Kriege und der kolonialistischen Welteroberung im Namen des Kreuzes, ist die Ersetzung von Tüchtigkeit durch Tapferkeit allerdings eher folgerichtig.

Die drei „christlichen“ Haupttugenden

Nach Thomas von Aquin sind die genannten vier weltlichen oder auch „natürlichen“ Kardinaltugenden72 durch drei speziell „christliche“ bzw. „göttliche“ Tugenden ergänzt. Diese gehen zurück auf den Kirchenvater Paulus.73 Sie lauten so kurz wie umfassend

● Glaube (fides)
● Liebe (caritas)
● Hoffnung (spes)

Diese drei Tugenden heißen bis heute „göttlich“, weil sie speziell aus Gott stammten und auf Gott ausgerichtet seien74 als Glaube an Gott, Hoffnung auf Gott und Liebe zu Gott.75 Der Glaube ist aufgrund seines lateinischen Ursprungswortes fides mit der Mitbedeutung Treue versehen. Er ist also weniger als blinde Gläubigkeit an alle Wunder zu verstehen, sondern mehr als Beständigkeit, nicht vom Glauben abzufallen. Liebe / caritas meint natürlich nicht die erotische Liebe bzw. inniges einander Verfallensein (das wäre lat. amor), sondern die fürsorgliche Liebe (daher „caritative“ Einrichtungen) und grundlegend die mit Gott verbindende Liebe. Der Hoffnung / spes scheint weitgehend eine stützende Funktion für die unverzagte Treue zu Gott zuzukommen.76

Die Tugenden Glaube (mit Kirche), Hoffnung (mit Sonne) und Liebe (mit Kindern)

Ohne diese drei „göttlichen“, gottbezogenen Tugenden oder Grundeinstellungen ist dem katholischen Glauben nach das ewige Leben, die Rettung vor dem ewigen Tod in der Hölle nicht möglich. Ja, ohne sie kann auch mit Hilfe kirchlicher Organe keine der anderen Todsünden vergeben werden.77 Denn ihr Verlust ist gleichbedeutend mit Abfall von Gott bzw. von dem Glauben an ihn. Ziel und höchstes Gut ist für Thomas von Aquin und die christliche Kirche die ewige Glückseligkeit im jenseitigen Leben. Dazu dient die Befreiung von der Sünde, die Tugenden sind Mittel dazu. In der griechischen Klassik hingegen galt als höchstes Gut ein glückseliges – oder doch im Umgang mit guten und schlechten Ereignissen zumindest möglichst glückliches – Leben im Diesseits, bis zum Eintritt des Todes.

Zusammenfassung

Im aktuellen Kompendium zum Katechismus der katholischen Kirche sind die Sieben Tugenden unter den „Formeln der katholischen Lehre“ wörtlich so zusammengestellt:

„Die drei göttlichen Tugenden

1. Glaube
2. Hoffnung
3. Liebe.

Die vier Kardinaltugenden

4. Klugheit
5. Gerechtigkeit
6. Tapferkeit
7. Mäßigung.“
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Kirchliche Tugend der Liebe – Caritas

In dieser Form werden die Sieben Haupttugenden in der kirchlichen Lehre gemeinhin den Sieben Todsünden79 summarisch gegenübergestellt. Abgesehen von der als magisch geltenden Zahl Sieben80 ist für die Anzahl der Sieben Haupttugenden sicherlich auch die Popularität der „Sieben Todsünden“ verantwortlich. Beide Einschränkungen auf die Zahl Sieben decken ein wenig zu, dass sowohl die Anzahl möglicher Sünden81 als auch die Zahl möglicher Tugenden oder Verhaltensrichtlinien in den kirchlichen Schriften fast unendlich ist. Bei den Sünden liegt das vor allem am Alleinstellungsmerkmal der christlich-kirchlichen Lehre. Nämlich dass diese sich auf die unausweichliche Sündhaftigkeit des Menschen gründet. Und dass die christliche Kirche deren Bekämpfung oder Besiegung durch die Gnade Gottes und in Demut vor Gott zum Hauptinhalt eines Strebens nach jenseitigem ewigen Leben gemacht hat.82 Bei den Tugenden hingegen liegt die Vielfalt an der Frage, wie ein glückliches Leben aussehen kann. Wie es zu führen ist und wie das Zusammenleben der Menschen zu gestalten sei. Denn diese Fragen durchziehen alle Zivilisationen der Menschheit und finden dort unterschiedliche, aber oft auch im Prinzip ähnlich ausgerichtete Antworten. Entsprechend reich und verzweigt sind die ethischen Konzeptionen im Verlauf der Geschichte.

Ihnen gegenüber erscheinen die christlichen Sieben Tugenden, in welcher Fassung auch immer, mit ihrer verbotsorientierten Ausprägung doch als arg schmale Basis für umfassende individuelle Lebens- und übergreifende Gesellschaftsorientierungen, also als Zielsetzungen und Orientierungen für gelingendes Leben und gelingendes Zusammenleben auf diesem Planeten.

In volkstümlichen Darstellungen werden die beiden verschiedenen „Tugendkataloge“ als kulturelles Allgemeingut dann häufig auch vermischt und im zeitbedingten Umgang mit moralischen Fragen aus anderen Traditionen angereichert. Exemplarisch etwa das Spottlied dreier Strolche aus der Oper „Die Kluge“ von Carl Orff (1943), das in den 1950ern auch als Single populär war. Der Text zählt Tugenden und Sünden auf. Allerdings behauptet er spöttisch, dass all diese Tugenden schon lange gegen die Sünden verloren hätten. Der naseweise Hinweis auf das Ende aller Tugend beinhaltet über seine Zeit hinaus zumindest ihre bedingte Relativität, ihre Nicht-Selbstverständlichkeit.83

Dass es bei der Vielfalt der Erscheinungen und Probleme dieser Welt wenig hilfreich ist, eine Handvoll von Dos und Don’ts als die absoluten Regeln zu setzen, sie gar mit Hölle und Himmel zu belegen, hat Immanuel Kant auf den Punkt gebracht. Für Kant muss der Mensch in allen Situationen selbst mündig nachdenken und entscheiden, was richtig und was falsch ist. Deshalb gibt es für ihn nur eine Primärtugend, nämlich den guten Willen. Ohne ihn kann alles, auch alle anderen Tugenden, ,,äußerst böse und schädlich werden“: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“84 Dem kann die kritische Betrachtung der verschiedenen Tugendlehren in unserer globalen Kulturgeschichte sicherlich hilfreich beiseite stehen.

Anmerkungen, Erläuterungen und Verweise

  1. Die User-Frage lautet wörtlich: „Wie heißen die Worte des jeweiligen Gegenteils zu den sieben Todsünden?“
  2. Die Theorie von der Befreiung von der Sünde als Hauptaufgabe wird ausgeführt und erläutert in dem kundigen Artikel von Manfred Klatt, Was ist eine Todsünde? Zur Begründung für die Sünde als ausnahmsloses Hauptübel aller Menschen wird im aktuell gültigen „Katechismus der Katholischen Kirche“ (KKK), Nr. 1870 aus den Römerbriefen des Paulus zitiert: „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen“ (Röm 11,32). Da bis auf Maria alle Menschen sündig sind, haben sie keine Chance, dem von vornherein zu entgehen.
  3. so differenziert im offiziell vatikanischen „Katechismus der katholischen Kirche“ in der Fassung von 1997 [im folgenden zitiert als „KKK“], Nr. 1862ff
  4. ausgeführt im offiziell vatikanischen „Katechismus der katholischen Kirche, KKK“, von 1997, Nr. 1854ff
  5. Dies leitet der KKK wesentlich aus Paulus‘ Brief an die Römer [Römer 5:12] im Neuen Testament ab.
  6. im KKK abgeleitet aus 1 Johannes 6,16-17
  7. KKK 1861, s.o.; weitere Quellen: „Holländischer Katechismus“ (1970), S.502ff. „Der Glaube der Kirche“ v. Neuner-Roos (1983), Nr. 652, alle zitiert in Klatt, Todsünde
  8. ausführlich ebenfalls in: Manfred Klatt, Was ist eine Todsünde?
  9. nämlich bis zum II. Vatikanischen Konzil (1962 – 1965), wo die im folgenden genannten Vergehen aus den Todsünden endlich gestrichen wurden
  10. König Salomo war demnach ca. im 10. Jh. v. Chr. Herrscher des vereinigten Königreichsreiches Israel.
  11. Altes Testament, Sprüche 6,16-19; Formulierung nach: https://www.7todsuenden.ch
  12. genauer: Paulus von Tarsus
  13. Neues Testament, Paulus, Brief an die Galater 5: 19-21
  14. Die bösen Gedanken oder bösen Leidenschaften (λογίσμοι / logísmoi) lauten bei ihm:
    1. Stolz,
    2. Ruhmsucht,
    3. geistliche Faulheit,
    4. Zorn,
    5. Traurigkeit,
    6. Habgier,
    7. Völlerei,
    8. Unkeuschheit.
  15. Gregor I. war ein Urenkel von Papst Felix II. und entstammte einer römischen Patrizierfamilie. Nach einer politischen Karriere entschied er sich – in politisch eher unübersichtlichen Verhältnissen – dann zu einer Karriere als Mönch, wurde Bischof von Rom mit auch staatlichen Aufgaben und stieg schließlich zum Papst (von 590 bis 604) auf. Er hinterließ ein umfangreiches Schriftwerk und bald auch eine Menge Legenden um seine Person.
  16. in der ursprünglichen gregorianischen Fassung und Reihenfolge:
    1. Stolz,
    2. Neid,
    3. Zorn,
    4. Traurigkeit,
    5. Habgier,
    6. Völlerei,
    7. Unkeuschheit
  17. In der nachfolgenden Liste entspricht jeweils der erste Begriff der gegenwärtigen offiziellen Übersetzung der katholischen Kirche in ihrem Katechismus von 1997 [siehe KKK Nr. 1866], dort allerdings in anderer Reihenfolge.
  18. In der angeführten Reihenfolge stehen die Hauptsünden auch im Kompendium von 2003 [Das Kompendium ist gleichsam die Vatikan-offizielle Zusammenfassung des „Katechismus“, neudeutsch: sein Abstract, als auch seine laienbezogene Erläuterung]. Dort heißt es unter der Nr. 398: „Die Laster, das Gegenteil der Tugenden, sind verkehrte Gewohnheiten, die das Gewissen verdunkeln und zum Bösen geneigt machen. Die Laster können mit den sieben sogenannten Hauptsünden in Verbindung gebracht werden. Hauptsünden sind: Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, Trägheit oder Überdruss.“
  19. Der Prozess der Reinigung der Seele hat vorübergehend bekanntlich in der Inquisition, der „hochnotpeinlichen“ Seelenerforschung in Verfolgung abweichenden Glaubens, einen bizarren Höhepunkt gefunden. In ihrem Namen wurde der „Ketzer“ Giordano Bruno noch im Jahr 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. „Befragung“ und Bestrafung wurden später immerhin milder. Das letzte Todesurteil erfolgte 1782 in Spanien. Auf dem II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) räumte die Kirche endlich „Irrtümer“ bei der Inquisition ein und öffnete die Archive. Die zuständige kirchliche Behörde, das „Heilige Officium“ wurde dann 1965 endgültig aufgelöst und durch die „Glaubenskongregation“ aus kirchlichen Würdenträgern ersetzt, die fortan über Glaubenskonformität von Mitgliedern und Meinungen entschied. [Ein kompakter Überblick zum Thema in Planet Wissen, Geschichte der Inquisition]
  20. Zum Glück ist die Zeit vorbei, dass die christliche – oder eine andere – Religion bzw. ihre spekulativen Ableitungen die Gesetzgebung bestimmen sollten, wie in Europa im Mittelalter und heutzutage in anderen Ländern mit der Scharia.
  21. So die Quellen-Angabe im zitierten Text. Gemeint ist Gregors Schrift „Moralia in Iob“ [Iob = Hiob], ein breit angelegter Kommentar in 35 Büchern um das alttestamentarische Buch Hiob, u.a. mit Ausführungen zu Sünden und Tugenden.
  22. KKK Nr. 1866. Zitiert und erläutert auch im Artikel über die Sieben Todsünden in: Katholisch. So auch im Kompendium unter Nr. 398. Auch dort werden die Hauptsünden als Gegenteile von Tugenden bezeichnet: „Die Laster, das Gegenteil der Tugenden, sind verkehrte Gewohnheiten (…) Die Laster können mit den sieben sogenannten Hauptsünden in Verbindung gebracht werden. Hauptsünden sind: Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, Trägheit oder Überdruss.“
  23. Sorry für diese gestelzte, vielleicht etwas hegelistisch anmutende Begriffs-Hantiererei. Sie ist dem Umstand geschuldet, dass es in den offiziellen katholischen Schriften, etwa in Katechismus und Kompendium, eine listenartige Gegenüberstellung der Begriffe als solche nicht gibt. Sie wird dort nur, wie zitiert, als Möglichkeit bezeichnet, um im folgenden wieder auf die Laster als Liste und in Einzelheiten von Sünden und gegenteiligen Tugenden einzugehen. Es beruhigt uns ein wenig, dass die KI Chat GPT, nach den direkten Gegensätzen der sieben Todsünden befragt, im wesentlichen ebenfalls unsere im folgenden aufgestellte Gegenüberstellung präsentiert.[Abruf 30.06.2024] Bei genaueren Nachfragen nach Begründungen, Herleitungen und Quellen wird es bei Chat GPT, wie gewohnt, dann aber wieder schwammig-allgemein, sogar mit irreführenden Quellenverweisen. Die Spuren im Netz für diese Art der direkten Gegenüberstellung sind quellentechnisch eher anspruchslos. Sie ist z.B. auf einem unsicheren, kommerziellen Blogspot vertreten, verbunden mit dem Kauf-Angebot eines Tank Tops. Die Vorlage für deren unkommentierte Schrifttafel gibt es – ebenfalls unkommentiert – als „Lerntafel“ für den Religionsunterricht der 7. Klassen auf einer Website namens allgemeinbildung.ch. Immerhin in Textform, aber doch eher erklärungsarm, findet sich diese Gegenüberstellung auch auf der kommerziellen Ratgeber-Website spigato.com. Der religiös ausgerichtete Agnus-Dei-Verlag bietet sie kommentarlos als wohlfeile Postkarte für schlappe 1,50. Fazit: Diese direkte Gegenüberstellung existiert unerklärt auch im Netz, aber es liegt keine seriöse Ableitung oder Gewichtung für sie vor.
    In populären Darstellungen werden die beiden unterschiedlichen „7-Tugendkataloge“ öfter auch wieder vermischt, exemplarisch im populären Trinklied aus der Oper „Die Kluge“ von Carl Orff (1943), siehe ausführlich dazu unten in der Zusammenfassung insbesondere die Anm. 83.
  24. Herkunftsbedingt gibt es ihre Grundbegriffe zunächst in der Kirchensprache Latein. Die Übersetzungen ins Deutsche folgen den genannten offiziellen katholischen Schriften.
  25. Natürlich kann man auch so zu jedem Begriff sein (logisches) Gegenteil bilden. Aber diese Gegenteile befinden sich eben auch als solche in den vorliegenden kirchlichen Texten.
  26. Dort heißt es bekanntlich unter 5. kurz und knapp: „Du sollst nicht töten.“ Dieses Gebot hat jedoch keinen Eingang in die Sieben Todsünden gefunden. Einschränkungen bei der Geltung dieses Gebots werden auch im katholischen Kommentar der Erzdiözese Wien historisierend diskutiert. Ausnahmen könne es daher namentlich in bezug auf die Todesstrafe und „gerechte Kriege“ geben. Solche Einschränkungen der Gültigkeit der 10 Gebote sind in diesen Kommentaren ansonsten keineswegs üblich. Es gibt sie nicht etwa zum 7. Gebot, „Du sollst nicht stehlen“. Stark verkürzt gesagt: Nach dieser Interpretation ginge Krieg unter Umständen in Ordnung, aber Robin Hood hätte da keine Chance.
  27. Diese taucht allerdings indirekt in den Erläuterungen auf, nämlich bei den Voraussetzungen zur Sündenvergebung.
  28. Der klassische Begriff von Hybris/ Überheblichkeit ist exemplarisch dargestellt im Cosmiq-Artikel über Phaeton.
  29. Hybris/ Überheblichkeit ist ins Heutige übersetzt also so etwas wie eine egozentrisch motivierte oder aber auch mit übergeordneter „Notwendigkeit“ gerechtfertigte moralische Scheißegal-Haltung.
  30. Zur Funktionsweise von Demut in der Geschichte der Kirche siehe auch den Cosmiq-Artikel über die Bedeutung der Schlange am Kreuz. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass eine Erziehung zu unhinterfragter Demut und Angst vor Autoritäten auch zum langjährigen Schweigen von Opfern sexualisierter Gewalt ihren Beitrag geleistet haben dürfte.
  31. Diese Reihung und Maßgabe gibt es, wie oben unter 1.2.1 gesagt, schon bei Evagrius von Pontus, dann auch von Gregor; ausführlich bei Manfred Klatt, Was ist eine Todsünde?
  32. Im Kompendium reicht das Thema von Nr. 488 bis Nr. 494; einschließlich des Themas Empfängnisverhütung gar bis Nr. 502. Es scheint also ziemlich wichtig zu sein.
  33. Kompendium Nr. 489
  34. Die Sieben Sakramente der Kirche sind „Taufe, die Firmung, die Eucharistie, die Buße, die Krankensalbung, die Weihe und die Ehe.“ [KKK 1210]
  35. Zitat: Kompendium Nr. 490
  36. Auch diese Auffassung von Leistungsfeindlichkeit sexueller Betätigung ist mittlerweile überholt.
  37. Im „ehelichen Akt“ muss die Verbindung von Hingabe der Gatten und Fortpflanzung untrennbar gewahrt sein, heißt es etwas schwammig, aber letztlich eindeutig in Nr. 496 des Kompendium. Also die Zeugungsabsicht muss dabei sein. Streng und wörtlich genommen müsste also auch jeder eheliche Beischlaf ohne diese Absicht detailliert dem Beichtvater geschildert werden, um der möglichen Höllenqual zu entgehen.
  38. [Kompendium Nr. 491]. In Nr. 341 des Kompendium findet sich auch die emphatische, aber eher unerotische Empfehlung: „Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt hat“ (Eph 5, 25).
  39. ausdrücklich bezüglich Homosexualität als Todsünde. Diese wird absurderweise noch immer in einem Atemzug genannt mit Vergewaltigung und sexueller Gewalt gegen Minderjährige. [in Kompendium Nr. 492].
  40. Das Kompendium (INr. 338) formuliert hier eingeschränkter: „Die eheliche Vereinigung von Mann und Frau, (ist) durch den Schöpfer grundgelegt“, mithin alle anderen Erscheinungsformen der erotischen Liebe augenscheinlich irgendwie nicht so.
  41. Masturbation ist ausdrücklich als Todsünde aufgezählt in Kompendium Nr. 492, und zwar in einer Reihe mit Homosexualität und ebenfalls in einem Atemzug mit Vergewaltigung und sexueller Gewalt gegen Minderjährige, die allerdings noch schlimmer seien.
  42. in Kompendium Nr. 490, siehe oben im Text
  43. Die Kirche sieht sich mit ihrer faktisch uneinhaltbaren Regelvorgabe mit Höllendrohung und Bestrafungshoheit aber zunehmend mit der Frage konfrontiert, inwieweit sie im diesseitigen Leben nicht seit jeher schlicht zu einer Unterdrückung des Sexualtriebs beiträgt und damit zu deren Folgen für Individuen und Gesellschaft. Als mögliche Folgen sind neben eingeschränkter Liebesfähigkeit zumindest gesellschaftliche Doppelmoral, in Hass umschlagender Selbsthass und gewaltbesetzte Sexualität zu identifizieren. [Zur Literaturlage: Grundlegend wurde das Phänomen der Triebunterdrückung von Sigmund Freud untersucht und von seinen Nachfolgern in der Psychoanalyse fortentwickelt. Zu den gesellschaftlichen Folgen haben etwa das Ehepaar Mitscherlich (Die Unfähigkeit zu trauern) und Herbert Marcuse einen wichtigen Beitrag geleistet. Die Literatur zum Thema ist fast unüberschaubar, daher verzichten wir auf einzelne Links. Ein allgemeiner, gut verständlicher Einstieg in das Thema findet sich unter vielen im Netz hier].
  44. Der sündenbasierte Umgang mit dem gottgegebenen bzw. natürlichen Sexualtrieb ist auch unter religiösen Vorzeichen keineswegs alternativlos: Die hinduistischen Religionen sehen z.B. die sexuelle Ekstase als eine dem Göttlichen nahe Erfahrung. Sinnliches Verlangen und Wunscherfüllung ist hier eines der vier Lebensziele. Auf dieser Basis entstand dort das Kamasutra.
  45. Hier bei Cosmiq finden sich zum Thema der Mäßigung beispielhaft die Artikel zur Mythologie des Phaeton sowie zu einem Goethe-Gedicht. Allerdings zeigt die Geschichte, dass dieses Ideal auch damals nicht unbedingt befolgt wurde.
  46. Im KKK Nr. 2535ff wird im Kontext mit den Zehn Geboten recht wirtschaftsorientiert ausgeführt, es gehe darum, das Eigentum anderer zu bewahren und etwa dem kaufmännischen Konkurrenten nichts Böses zu wünschen oder anzutun, sowie allgemeiner, dass das zu Aggression führe.
  47. so in KKK Nr. 2539
  48. [KKK Nr. 2540]
  49. acedia ist eine Latinisierung von griech. ἀκηδία / akedía, Sorglosigkeit/Nicht-Sorge, hergeleitet von griech. κῆδος / kēdos „Sorge“. [ausführlich in Wikipedia zum Begriff Acedia]
  50. [noch einmal Wikipedia zum Begriff Acedia]
  51. Periodisch schlagen die Sozialkassen mit mäßigem Erfolg Alarm über zunehmende Fehltage im Arbeitsleben durch psychische Erkrankungen, namentlich im Formenkreis von Erschöpfung und Depressionen. Aktuell hat auch das (physisch basierte) Fatigue-Syndrom als Teil von ME/CFS im Zusammenhang mit Long-Covid neue Aufmerksamkeit erhalten. Auch hier gibt es Tendenzen, die Erkrankung als psychische Labilität abzutun, die mit Mobilisierung von Energie zu bekämpfen sei.
  52. „Recht auf Faulheit“ war der provokante Titel eines Buches von Paul Lafargue, das auch seinen Schwiegervater Karl Marx arg provozierte.
  53. [Matthäus 6, 25-26, Lutherbibel 1965]. Matth. 6,26 lautet in heutiger und vollständiger Fassung: „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?“ [Matthäus 6, 26, Einheitsübersetzung] , hier also nun ohne antithetisches „doch“. Davor (Matth. 6,24) die Kernstelle: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“
  54. Überspitzt: Die geforderte Tugend grenzenlosen Fleißes kann als Ursache von Depressionen die Sünde der Trägheit (mit) verursachen.
  55. Die Hölle fungiert(e) von jeher als entscheidende Drohung für kirchenkonformes Verhalten. Kontrastiv dazu ein Jahrzehnte alter Witz aus dem katholischen Süden der Republik: Der Teufel führt ein Gruppe von Neuankömmlingen in der Hölle herum: Überall blinkende Lichter, Spieltische, Schnapstheken, Vergnügungsbuden usw. Ganz am Ende sieht man eine geschlossene Stahltür in der Wand. Der Teufel winkt ab: „Das ist nichts für euch. Lasst sie zu.“ Auf der Tür ein Schild: „Privat! Betreten verboten!“ Die Neugier steigt, aber der Teufel bleibt dabei :“Nichts für Euch“. Schließlich gelingt es einem der Neuankömmlinge doch, die Tür aufzumachen. Ihm schlagen fürchterliche Flammen und grässliche Schreie entgegen. Der Teufel erklärt: „Das ist für die Katholiken. Die wollen das so haben.“ [Danke an D.H.]
  56. Offiziell gilt der Papst seit 1871 als unfehlbar. Der Zweifel daran kostete z.B. den Theologen Hans Küng 1979 die Lehrerlaubnis.
  57. siehe oben unter 1.1., ausführlich in Manfred Klatt, Was ist eine Todsünde?
  58. Der Begriff „Kardinaltugend“ wird zuerst im 4. Jahrhundert von Ambrosius von Mailand verwendet, und zwar in einer Auseinandersetzung mit der Tugendlehre des klassisch römischen Cicero. Einen schmalen historischen Überblick dazu bietet Wikipedia. Der Begriff „Kardinaltugenden“ wurde und wird abgeleitet von lat. cardo = (Tür-)Angel/ Gelenk, weil diese in der Tugend- bzw. Sündenlehre gleichsam das Scharnier oder den Angelpunkt für weitere Tugenden bzw. gegenteilig für weitere Sünden darstellten.
  59. durch Gregor I. siehe oben, Abschn. 1.2.2.
  60. Thomas von Aquin lebte 1224- 1274. Die Sieben Kardinaltugenden bekamen ihre verbreitete, „gültige“ Fassung also erst, als die christliche Religion im Mittelalter zur Basis der Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen geworden war. Als also die Regeln der Kirche ausnahmslos die Herrschaft und das Leben von Papst, Kaiser, Fürsten, Zünften, Lehensherrn und Leibeigenen bestimmten.
  61. Aischylos in seinem Stück „7 gegen Theben“ Vers 610, aufgeführt 467 v. Chr. [siehe auch Wikipedia]. Dort erläutert Eteokles anhand bekannter Beispiele: Wenn jemand mit diesen Eigenschaften sich in die Gesellschaft von schlechten Menschen begibt, die diese Tugenden nicht haben, kann er dennoch scheitern.
  62. Die griechischen Begriffe haben in der Regel ein umfangreicheres Bedeutungsspektrum als ihre deutschen Übersetzungen und sind auch keineswegs deckungsgleich. Auch ihre Wiedergabe hier durch mehrere Bezeichnungen wird dem nicht vollständig gerecht. Daher bringen wir hier auch ihre griechische Schreibweise, weil man mit ihnen am besten und genauesten ihre Deutung/ Bedeutung auf kompetenten Websites herausfinden kann. Einige wenige, eher exemplarische Begriffserläuterungen finden sich auch im folgenden.
  63. In der identitätsstiftenden „Nationalsage“ Ilias („Kampf um Troja“) von Homer greifen die verschiedenen Götter auf beiden Seiten in den Kampf und das Geschehen ein. Ihre Motive reichen von Gekränktsein bis Eifersucht. Nicht nur für den spätklassischen Philosophen Epikur war diese Vorstellung von emotionsgetriebenen Göttern, die parteiisch in die menschlichen Streitigkeiten eingreifen, lächerlich und nahezu ketzerisch. Er meinte: Götter, wenn es sie denn gibt, sind per Definition vollkommen, die Menschen aber in ihrem Handeln und Streben nicht. Deshalb lassen sich die Götter auf die Menschen und ihre Zwecke nicht ein. Und folglich haben die Menschen die Götter auch nicht zu fürchten.
  64. „asebeia/ ἀσέβεια“ war einer der Anklagepunkte gegen Sokrates, der 399 v. Chr. zum Tode verurteilt wurde. Zuvor waren die Philosophen Anaxagoras und Protagoras, beide Freunde und Berater des berühmten Staatsführers Perikles, desselben Verbrechens bezichtigt worden. Allen dreien gemeinsam war, dass sie mehr auf den eigenen Verstand setzten als auf eine vorgefasste und unantastbare göttliche bzw. überlieferte Wahrheit. Das bedrohte wohl mehr die traditionale(n) staatliche(n) Autorität(en), als dass wirklich Furcht vor göttlichem Zorn das Motiv für die Anklage war, wie man der Verteidigungsrede des Sokrates entnehmen kann. Dort lautet die Anklage: „Sokrates frevelt und betreibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht, und dies auch andere lehrt.“
  65. Platon war Philosoph und Staatstheoretiker und lebte 428 – 348 v. Chr. Unter der Prämisse einer kosmisch hinter den Ereignissen wirkenden regulativen Idee entwarf er zunächst einen Idealstaat, in dem die „Besten“ und Weisen als Staatslenker und „Wächter“ des Gemeinwesens fungieren sollten. Da dieser Ansatz dem der christlichen Kirche sehr nahe kam, wurde Platon im Mittelalter bevorzugt weiterverbreitet. Im Alter änderte Platon allerdings seinen staatstheoretischen Ansatz zugunsten demokratischer Regeln unter der Herrschaft allgemeingültiger Gesetze und vor allem mit sozialem Ausgleich. [PlatonDie Gesetze/ Νόμοι/Nomoi, Buch IV f]. Im Laufe der griechischen Geschichte verschob sich philosophisch und kulturell das Interesse vom Verhältnis zu den Göttern hin zum Verhältnis der Menschen untereinander.
  66. Allerdings widersprach Platon in seinem Alterswerk der seines Erachtens „spartanischen“ Auffassung, dass der Staat um das Prinzip der Verteidigung nach außen hin zu konzipieren und zu organisieren sei. Stattdessen setzte er nun grundlegend auf den inneren Frieden durch sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit (PlatonDie Gesetze/ Νόμοι/Nomoi). Diese „altersweise“ Änderung seines Ansatzes wurde in der Platon-Rezeption aber weitaus weniger wahrgenommen.
  67. In seiner ersten großen Schrift über den Idealstaat [Platon, Der Staat/ Πολιτεία/ Politeia] ordnet Platon diese Tugenden, die für ihn „Seelenteile“ sind, den sozialen Ständen zu: dem obersten, herrschenden Stand die Weisheit, dem zweitrangigen die Tapferkeit und dem niederen Stand die Verständigkeit und die Mäßigkeit. Die Gerechtigkeit sollte als Bindeglied zwischen den Ständen diesen und innere Konflikte verhindern. Diese Ständelehre gab er aber in seinem Spätwerk zugunsten der Prinzipien allgemeingültiger Gesetze und sozialen Ausgleichs auf. [Zu Platons Staatslehre im Wandel ausführlicher hier bei Cosmiq] Diese beiden Prinzipien sollten nunmehr die Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens sein. [Das Original des Spätwerks: PlatonDie Gesetze/ Νόμοι/Nomoi].
  68. „Die grundlegenden menschlichen Tugenden sind die sogenannten Kardinaltugenden. Alle anderen sind rund um sie angeordnet, sie bilden die Angelpunkte des tugendhaften Lebens. Es sind dies die Klugheit, die Gerechtigkeit, die Tapferkeit und die Mäßigung.“ So das aktuelle Kompendium Nr. 379
  69. nämlich in Form der lateinischen „prudentia“. Diese bezeichnet von der Herkunft her das Vorherwissen, dann aber steht „prudentuia“ klassisch für Kenntnis/Wissen(schaft)/Erfahrung, Klugheit als (lebens)praktischer Verstand.[Menge-Güthling 15./1965] Ausgerechnet bei der Diskussion um die Verantwortung der Künstlichen Intelligenz (KI) greifen ihre Befürworter in ihrer Jagd nach seriös klingenden, aber neu zu besetzenden Schlüsselwörtern auf die bedeutungsreichere griechische φρόνησις/ phronesis zurück. Die interpretieren sie zugespitzt als „ethisches Urteilsvermögen“, das sie der KI andienen wollen. Bei den gehypten sprachbasierten KI wie Chat GPT scheint dies jedoch auch nach dessen eigener Aussage nicht möglich.
  70. Thomas von Aquin und die heutige katholische Kirche waren ja nicht gezwungen, hier entgegen dem klassischen Ideal von „ἀγαθοσῠ́νη /agathosyne“ dieses eher kriegerische Element aus der Staatslehre des frühen Platon – in der der Staat gleichsam als die Verkörperung der allumfassenden Idee fungierte, die Staatsbürger als dessen Glieder – und von den machtbetonten römischen Staatsmännern wie Cicero zu übernehmen.
  71. So preist die Bergpredigt Jesu bekanntlich selig u.a. die „Sanftmütigen“ und „die Frieden stiften“. Und Jesus wies darauf hin, dass Gewalt (das Schwert) wieder Gewalt hervorbringt. [Matthäus 26 : 52: „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen“]. Aktuelle Bezugnahmen dazu findest du u. a. auf der Sprichwort-Plattform.
  72. bei Thomas von Aquin im Original (lateinisch) definiert als prudentia / Klugheit, iustitia / Gerechtigkeit, temperantia/ Mäßigung und fortitudo / Tapferkeit
  73. Paulus, Brief an die Korinther, 1 Kor 13, 13
  74. „Die göttlichen Tugenden haben Gott selbst zum Ursprung, zum Beweggrund und zum unmittelbaren Gegenstand. Sie werden dem Menschen mit der heiligmachenden Gnade eingegossen und machen ihn fähig, in Verbindung mit der Dreifaltigkeit zu leben. Sie bilden die Grundlage und die Seele des sittlichen Handelns des Christen und beleben die menschlichen Tugenden. Sie sind das Unterpfand dafür, dass der Heilige Geist in den menschlichen Fähigkeiten wirkt und gegenwärtig ist.“[Kompendium Nr. 384, ihre Aufzählung dort in Nr. 385]
  75. Als populäre Dreiheit ist sie nicht nur den Fans des FC St. Pauli, sondern auch dem Volksmund mitunter sehr viel weltlicher geläufig.
  76. In der griechischen Mythologie befand sich in der Büchse der Pandora, die das Üble enthielt und über die Welt ausgeschüttet wurde, ganz zuunterst dann auch noch die Hoffnung.
  77. Das ist ansonsten für Mitglieder der katholischen Kirche mit dieser Voraussetzung auch bei Todsünden erstaunlich einfach: „Man begeht eine Todsünde, wenn zugleich eine schwerwiegende Materie, die volle Erkenntnis und die freiwillige Zustimmung vorliegen. Eine solche Sünde zerstört in uns die Liebe [zu Gott], beraubt uns der heiligmachenden Gnade und führt uns zum ewigen Tod der Hölle, wenn wir sie nicht bereuen. Todsünden werden gewöhnlich durch das Taufsakrament oder durch das Sakrament der Buße und der Versöhnung vergeben.“ Kurz: Bei Todsünde bewahrt die Kirche, nämlich Taufe und/oder Beichte/Buße, unkompliziert vor der Höllenstrafe. [Kompendium Nr. 395]
  78. Zitat aus Kompendium, Abschnitt B, Formeln der katholischen Lehre, das Fettgedruckte dort kursiv.
  79. ebenfalls im Kompendium unter Abschnitt B, Formeln der katholischen Lehre
  80. So weist der Katechismus der katholischen Kirche z.B. auch genau Sieben Sakramente aus.
  81. Die Verschiedenartigkeit der Sünden ist groß. Man kann sie unterscheiden nach ihrem Gegenstand, nach den Tugenden oder den Geboten, denen sie widersprechen. Man kann sie in Sünden direkt gegen Gott, gegen den Nächsten oder gegen uns selbst einteilen oder auch in Sünden, die man in Gedanken, Worten und Werken oder durch Unterlassungen begeht.“ [Kompendium Nr. 393]
  82. Auch in anderen Religionen gibt es natürlich Vorstellungen von Sünde als Verstoß gegen göttliche Gebote und sogar von Hölle als Strafe für schlechten Lebenswandel. Und auch andere Religionen dienen nicht nur der Gotteserkenntnis, sondern auch der diesseitigen Herrschaftssicherung. Nirgendwo sonst erscheint jedoch die Erbsünde, die von vornherein gegebene Sündhaftigkeit des Menschen, ihre Unvermeidlichkeit, so ausgeprägt wie im Christentum.
  83. Der Stoff der Oper „Die Kluge“ ist einem Grimm’schen Märchen entnommen und spielt natürlich in einem Märchenreich, uraufgeführt im „Dritten Reich“. Namentlich das in der 7. Szene enthaltene Trink- und Spottlied „Als die Treue ward geborn…“ der drei betrügerischen Strolche wurde dann in der Nachkriegszeit populär und gar als hitverdächtige Single aus der Gesamtaufnahme der Oper ausgekoppelt. In dem Liedtext findet man etliche original lateinische Begriffe aus den dargestellten offiziellen Tugend- und Sünden-„Katalogen“ wieder [im folgenden Zitat sind diese Sünden/Tugenden in Klammern übersetzt und nummeriert gekennzeichnet anhand unserer Todsünden-Liste (mit „TS“ +Nr), der Liste der direkten Gegenbegriffe (mit „GB“ +Nr.) bzw. der Liste der Kardinaltugenden („KT“+ Nr).]
    Der Lied-Text besagt u.a. über das (Märchen-)Reich: „Fides [=Glaube, Treue, KT1] ist geschlagen tot,/ Justitia [=Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit, KT5] lebt in größter Not, / Pietas [=Frömmigkeit, Gottesfurcht aus der weltlichen Klassik] liegt auf dem Stroh, / Humilitas [=Demut, GB1] schreit Mordio, / Superbia [=Hochmut, TS1] ist auserkorn, / Patientia [=Geduld, GB4] hat den Streit verlorn, / Veritas [=Wahrheit, Wahrhaftigkeit aus der weltlichen Klassik] ist gen Himmel flogen, / Treu und Ehr [=faschistisch-soldatische Grundtugenden] sind übers Meer gezogen, / Tyrannis führt das Szepter weit, / Invidia [Neid, TS2] ist worden los, / Caritas [Liebe, KT3] ist nackt und bloß, / Tugend ist des Lands vertrieben, / Untreu und Bosheit sind verblieben…“ [Text mit diesem und weiteren Hinweisen auf kritische Spitzen von Joachim Schneider im Tamino Klassikforum].
    Die populäre, „gemischte“ Aufzählung von Sünden und Tugenden richtet sich hier ursprünglich sogar erkennbar kritisch auch gegen das nationalsozialistische „Reich“. Ob die Zuhörerschaft in der Frankfurter Oper das bei der Uraufführung (1943!) im einzelnen verstand, sei dahingestellt. Die kulturelle Bildung der faschistischen Zensoren des Librettos reichte jedenfalls augenscheinlich nicht so ganz aus ;-). Im Kontext der Nachkriegsjahrzehnte aber hatte die Popularität der Oper und ihres Trinklied-„Hits“ vermutlich einen anderen, weit weniger kritischen Grund: Man kann sie als – wenn auch schwache – schmerzlose Resonanz einer damals vorherrschenden Grundstimmung verstehen. Die Generation der Kriegstäter und Mitläufer gerierte sich in den Nachkriegsjahrzehnten gerne als Opfer: „Man“ habe im Faschismus ihren jugendlich-unschuldigen „Idealismus missbraucht“ und sie unwissend verführt, wurde immer wieder kolportiert. Mit dieser weichspülenden, von aller eigenen Schuld befreienden „Einsicht“ [spiegelbar in der Oper in deren Eingangs-Lamento „Oh, hätt ich meiner Tochter nur geglaubt“] schwor diese Generation nun jeglichem „Idealismus“ ab, damit aber auch gleich jeder Ethik. Sie ist überwunden und tot; niemand muss sich mithin irgendwo für irgend etwas, gar für Vergangenes rechtfertigen; denn es gibt ja gar keine Moral mehr: „Der Jäger blus sie in den Wind tralalalala… „, wie das Lied befreiend und feierfröhlich zu bestätigen scheint, „…daher man keine Treu mehr findt, tralalalala…“ Das hier so schön unschuldig formulierte und allgemein gefühlte Ende aller Moral erleichterte es den Wirtschaftswunder-Betreibern, die Vergangenheit ohne Trauerarbeit hinter sich zu lassen. Die Rezeptionsgeschichte dieser Oper ist somit zugleich ein Beispiel für die Relativität von Moral in sich ändernden Kontexten.
  84. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Erster Abschnitt: Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen, zitiert nach Netzwerk Ethik heute